„Das Leben ist anders, wenn man es lebt, als wenn man es im Nachhinein zerpflückt.“ Julien Gahyde (Mathieu Amalric), der unter Mordverdacht steht, sagt diesen zentralen Satz zum äußerst gewissenhaften und sehr präzise arbeitenden Untersuchungsrichter (Laurent Poitrenaux), der die Ermittlungen in einem doppelten Mordfall leitet. Dessen kühle, analytische Rekonstruktion einer dunklen Geschichte, die auf Erinnerungen und damit auf die subjektive Wahrheit aller Beteiligten angewiesen ist, schichtet Details auf Details. Und gerade diese fragmentierte, höchst spekulative Analysearbeit macht der französische Schauspieler und Regisseur Mathieu Amalric in seiner filmischen Adaption von Georges Simenons „Das blaue Zimmer“ zum ästhetischen Prinzip.
Aus diesen Details, kurzen Flashs, inneren Bildern und Rückblenden in die Vergangenheit des Protagonisten resultiert nicht nur eine sehr subjektive, letztlich nicht verifizierbare Wahrheit, sondern auch ein erzähltechnisch sehr dicht gefügtes Raum-Zeit-Kontinuum. François Gedigiers ebenso kunstvolle wie virtuose Montage, die Bild und Ton oft voneinander ablöst und asynchron gegeneinander stellt, versetzt die üblichen Koordinaten der filmischen Erzählung in ein freies, assoziatives Spiel. Alles wird zum Ausschnitt, zum Fragment und zur vagen Erinnerung. Überhaupt ist lange nicht klar, worum es in dem Film überhaupt geht, was wiederum die Phantasie des Zuschauers anspornt. Dazu kommt noch, dass sich Mathieu Amalric und sein renommierter Kameramann Christophe Beaucarne für das unübliche, in letzter Zeit von Autorenfilmern aber wieder häufiger verwendete Normalformat (1:1,33) entschieden haben und trotz des engen Bildfensters mit dem Raum und seinen Rändern experimentieren. In erlesen fotografierten Bildern, unterstütz von einem klassisch anmutenden Score (Musik: Grégoire Hetzel), entstehen so immer wieder Verschiebung in den statisch gefügten Arrangements und Bildkompositionen.
In Amalrics ästhetischem Vexierspiel um Wahrheit und Lüge geht es aber zunächst um die leidenschaftliche Affäre zwischen Julien, einem Vertreter für Landmaschinen, und der Apothekerin Esther Despierre (Stéphanie Cléau), die sich am titelgebenden Ort für ihre gemeinsamen Liebesstunden treffen. Dabei wirkt die besitzergreifende, fast bedrohlich erscheinende Esther entschiedener als der sich im Verhör zunehmend abhanden kommende Julien. Als Esthers schwerkranker Mann plötzlich stirbt und Juliens Frau Delphine (Léa Drucker) vergiftet wird, fällt der Verdacht auf die Ehebrecher, deren Verhältnis in dem kleinen Ort nicht lange unentdeckt bleibt. Zwischen öffentlicher Meinung und Intimität, Wahrheit und Lüge entwickeln Mathieu Amalric und seine Koautorin Stéphanie Cléau, die auch privat ein Paar sind, ein spannendes filmisches Rätsel, das seine dunklen Geheimnisse nicht preisgibt.