Die erste, relativ lange Einstellung zeigt die triste, heruntergekommene Fassade eines Plattenbaus. Dazu erklingen aus dem Off zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche. Wenn das Bild ein Relikt eines untergegangenen Systems, eines untergegangene Staates, der Sowjetunion, zeigt, dann erzählen die Stimmen dazu von denjenigen, die bei dem Umbruch, der mit diesem Untergang einherging, auf der Strecke geblieben sind, die nicht mitgenommen wurden, sondern die die Geschichte hier in ihrem Plattenbau vergessen zu haben scheint. Von der Freiheit, die man auch zu nutzen wissen muss, erzählen diese Stimmen, von den Drogen.
Yvette Löcker hatte eigentlich, so sagt sie, einen Ensemblefilm drehen wollen über die Generation, die Anfang der Neunziger jung waren im Russland nach der Perestroika, von denen viele drogenabhängig wurden. Herausgekommen ist jedoch das sehr intime Portrait eines einzelnen Paares in Sankt Petersburg: Shanna und Ljoscha, er hat Hepatitis, sie ist HIV-positiv, beide sind heroinabhängig. Der Zuschauer lernt zunächst ihn kennen – als Streetworker. In einer Einrichtung erzählt er einer schwangeren Abhängigen von den Auswirkungen, die die Opiate auf ihr Kind haben werden, das mit Entzugserscheinungen zur Welt kommen wird. Dann ist die Kamera bei ihm in seinem kleinen Auto, auf dem Weg in die Außenbezirke der Stadt, wo er mit seiner Mutter und seiner Freundin Shanna in einer winzigen, beengenden Plattenbauwohnung lebt.
Der Film setzt die Ankunft in der Wohnung, die er im weiteren Verlauf kaum einmal verlassen wird, als harten Kontrast zu Ljoschas Auftritt als Sozialarbeiter. Hier präpariert er zwei Spritzen mit Methadon, das er sich und Shanna injiziert. Die zurückhaltende, betont beiläufige Art, mit der der Film das zeigt, verweigert sich den beiden Extremen einer glamourösen Überhöhung des Konsums auf der einen Seite ebenso wie seiner sozialpädagogischen Dramatisierung auf der anderen. Für Shanna und Ljoscha gehört das Drogennehmen einfach zum Alltag, den Löckers Film sehr einfühlsam, zärtlich und mit riesiger Neugier skizziert. Wie das Essen, die Gespräche und kleinen Stänkereien, das ständige Rauchen, das Fernsehen und das Spielen mit ihrem Hamster.
Genauso wenig wie der Film seine Protagonisten auf ihre Krankheit reduziert, lässt er sie hinter den historischen Implikationen ihrer Biographie verschwinden. Vor der Geschichte und den Drogen steht in „Wenn es blendet, öffne die Augen“ der Mensch. In erster Linie geht es dem Film darum, uns seine Protagonisten näher zu bringen. Und zwar einerseits jeden für sich und andererseits in dem abhängigen und co-abhängigen Beziehungsgeflecht, das die drei miteinander verbindet und dem der Film eher in seinem Funktionieren auf den Grund zu gehen trachtet als in seiner Dysfunktionalität.
Da ist Ljoscha, der sich teilweise in der Beziehung zu Shanna, die – schon rein körperlich – auf ihn angewiesen ist, gefangen fühlt, der noch Träume hat, etwas anfangen möchte mit seinem Leben. Dann Shanna, die weitestgehend resigniert zu haben scheint, die sich ein cleanes Leben, so sagt sie an einer Stelle, gar nicht mehr vorstellen kann. Dennoch und bei aller körperlichen Gebrechlichkeit und seelischen Gebrochenheit liegt in ihrer Freude am Reden, am ausufernden Erzählen eine große Vitalität, der ihr Freund ein ums andere Mal Einhalt gebietet. Allen Widrigkeiten ihrer Situation zum Trotz scheint ihre Beziehung voller – wenn auch oft sehr sarkastischem – Humor zu sein. Schließlich Ljoschas Mutter, aus deren Versuchen, das Leid des Paares zu mildern – etwa indem sie ihnen ihr Essen eher aufdrängt als anbietet – Hilflosigkeit, aber auch eine sehr große, auf etwas raue Art zärtliche Menschlichkeit sprechen. Angesichts des Lebens von Shanna und Ljoscha sehnt sie sich die Sowjetunion zurück, wo es angeblich keine Drogen gab (eine Behauptung ihrerseits, der Ljoscha sogleich widerspricht und dafür auch Beispiele anführt).
Durch den Film ziehen sich Szenen, in denen das Paar durch alte Fotoalben blättert, der Kamera Bilder aus ihrer Jugend präsentiert, so als ginge es darum, sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu machen, einen missing link zu finden zwischen einem Lebensalter, das aufgeladen war mit Hoffnungen und Sehnsüchten – und das in ihrem Falle um so mehr, da es mit einem fundamentalen historischen Umbruch korrelierte – und ihrer Gegenwart. Löcker unterstreicht diesen Aspekt, indem sie an mehreren Stellen im Film – unter anderem direkt zu Beginn, nach dem Prolog – ein Punk-Konzert zeigt, das darauf verweist, dass das Drogennehmen vielleicht auch für Shanna und Ljoscha einst etwas von Aufbruch und Rebellion hatte, von Expressivität, statt der erzwungenen Zurückgezogenheit, zu der es sie in der Gegenwart verdammt.
Dass die Kamera meistens sehr dicht an den Gesichtern der beiden ist, wird schon durch die Enge der Wohnung vorgegeben. Gleichzeitig passt diese Nähe aber auch zu der Vertrautheit zu den Figuren, die der Film nach und nach aufbaut. Die letzte Szene zeigt die beiden in einem Park. Er schiebt sie im Rollstuhl. Die Art, wie das inszeniert ist, nacheinander sind ihre Gesichter im Close-Up und in Zeitlupe zu sehen, scheint einen Bruch mit der nüchternen, funktionalen Ästhetik zu bilden, die den Film bis hierher auszeichneten, sich wesentlich mehr den Konventionen des internationalen Arthouse-Kinos anzunähern (meine Assoziation war etwa der französische Publikumsliebling „Ziemlich beste Freunde“). Dieses Ende bietet aber gleich in mehrfacher Hinsicht einen gelungenen Abschluss für einen hervorragenden Film. Zunächst einmal, weil es die Studie der Gesichter der zwei Hauptfiguren fortsetzt, die dem Film die gesamte Laufzeit über am Herzen liegt, und die immer darauf aus ist, mehr in diesen Gesichtern zu finden als nur die offenkundige Zeichnung durch die Krankheit. Dann scheinen diese Bilder in ihrer Erhabenheit aber auch ein Denkmal für zwei Menschen errichten zu wollen, die die Geschichte vergessen zu haben scheint.