Zunächst geht die Bewegung von außen nach innen: Vom repräsentativen Vorplatz der Londoner National Gallery, wo stattlich ein steinerner Löwe thront, in die geweihten, noch menschenleeren Säle des weltberühmten Museums, durch die das Summen von Staubsaugern hallt. Doch dem mittlerweile 85-jährigen Dokumentarfilmregisseur Frederick Wiseman geht es in seinem neuen Film „National Gallery“ nicht um Zeichen der Macht oder soziale Gegensätze; sein großartiges dreistündiges Werk beschwört vielmehr die Gemälde selbst und mit ihnen die vielgestaltigen Repräsentationen menschlichen Lebens. In einer schnellen Montage unternimmt Wiseman eingangs eine Zeitreise in die Motiv-Welt der Alten Meister: Biblische Geschichten und weltliche Herrscher, rätselhafte Blicke und grässliche Fratzen, nackte Körper und gemarterte Leiber, idyllische Szenen und geheimnisvolle Landschaften folgen aufeinander in einem permanenten Wechselspiel von Schönheit und Schrecken.
Es gibt Momente in dieser fulminanten Montage, in denen die Ahnung des Ganzen emotional erlebbar wird, weil die Bilder förmlich in Bewegung geraten und weil sich der Blick zurück mit der Gegenwart verbindet. „Kunst umfasst alles“, sagt einmal einer der Museumspädagogen über ihren faszinierenden Reichtum und erklärt kurz darauf, warum Gemälde „keine Zeit haben“, also ihre Geschichten im zweidimensionalen Raum des Bildes entfalten. Um diese Geschichten zum Leben zu erwecken, habe er versucht, so Frederick Wiseman, „in das Gemälde zu treten“ und dessen Rahmen vom Wechsel zwischen Totale und Naheinstellung zu überwinden. „Ich wollte vorführen, dass die Bilder leben und eine Geschichte erzählen – und es gibt nichts, keine einzige menschliche Erfahrung, die darin nicht vorkommt.“ Unterstützt wird er dabei von einer Reihe äußerst kompetenter Kunstvermittler und Spezialisten, die das interessierte Publikum mit detaillierten Erläuterungen an ausgewählte Werke heranführen.
Viel Zeit nimmt sich der Altmeister des sich der „reinen“ Beobachtung verschriebenen Direct Cinema, der sich in seinem umfangreichen Œuvre immer wieder mit Institutionen beschäftigt hat, um „das zeitgenössische Leben einzufangen“, aber auch für einen Blick hinter die Kulissen der renommierten Gemäldesammlung. Kommentarlos dokumentiert er Arbeitsgespräche und Meetings, in denen es um Öffentlichkeitsarbeit, Marketingstrategien und Budgetfragen geht; er nimmt an Zeichenkursen teil, beobachtet Ausstellungsvorbereitungen, besucht Werkstätten und hört aufmerksam zu, wenn Restauratoren von ihrer komplizierten, kleinteiligen Arbeit sprechen. Dadurch weitet sich Schritt für Schritt das Bild der Institution und gewinnt dabei eine ähnliche Komplexität wie die Gemälde, die von ihr beherbergt werden. So wie Kunst als kulturelles Gedächtnis fungiert, speichert das Museum durch seine vielfältigen Gewerke das Wissen darüber.