In der (statistischen) Mitte des Lebens leidet der Filmemacher Philipp Hartmann unter dem Vergehen einer von ihm zugleich als stillstehend und rasend empfundenen Zeit. „Die lähmende Machtlosigkeit gegenüber der eigenen Vergänglichkeit“ bezeichnet er deshalb als „Ausgangspunkt“ für seinen kreativ-verspielten Essayfilm „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“, den der 1972 in Karlsruhe geborene Regisseur im Alter von „38¼“ Jahren beginnt. Komponiert und zusammengesetzt aus disparaten Materialien sowie verschiedenen Filmformaten, erhebt Hartmann dieses Datum zum äußeren wie inneren Strukturprinzip seines Films, dem er die Dauer von „76½“ Minuten gibt, was, in Jahre übersetzt, der durchschnittlichen Lebensdauer eines deutschen Mannes desselben Jahrgangs entspricht. Dieser persönliche Ansatz, angereichert mit biographischen Details, zahlreichen Erinnerungen sowie Begegnungen mit Freunden und Verwandten, ist für den Film wesentlich. Schließlich geht es in ihm nicht zuletzt um eine Auseinandersetzung mit dem Tod.
Erinnerungsfotos an Philipp Hartmanns Kindheit und Jugend, die sein früh verstorbener Vater aufgenommen hat, eröffnen demgemäß auch den Film. Aus dem Off von Kommentaren und Reflexionen des Regisseurs begleitet, zeigen diese sogenannten „halben Fotos“ jedoch nur die Hälfte der in verschiedenen Lebenskontexten aufgenommenen Szenen. Weil es sich jeweils um die ersten, noch nicht „zählenden“ Bilder eines Films handelt, sind sie auf ihrer linken Hälfte entsprechend weiß: eine Tabula rasa für die Erinnerung. Diese „Fotos von den Momenten vor dem eigentlichen Beginn“ erscheinen dem Filmemacher „wie eine Befreiung“. In ihnen ist die Zeit gewissermaßen noch nicht fixiert, kann die Imagination die Leerstellen der Erinnerung ausfüllen. Das Verhältnis zwischen subjektiver Zeitwahrnehmung, differierend in den wechselnden Lebensphasen, und objektiver Zeitmessung motiviert insofern den Film zu einem beträchtlichen Teil.
Doch auch dem quasi Objektiven ist die Abweichung inhärent wie die Atomuhr in Braunschweig mit ihrer – wegen den Schwankungen der Erdrotation – eingefügten Schaltsekunde ebenso zeigt wie eine der vielen Sanduhren eines verstorbenen Uhrenmachers in Buenos Aires. Hartmann sammelt diese Phänomene an wechselnden Orten und in unterschiedlichen Kulturen weniger, um sie wissenschaftlich zu analysieren, sondern um sie vielmehr poetisch zu durchdringen. „Das einzige, was hier passiert, ist Zeit“, steht auf einer der ausrangierten Lokomotiven, die auf einem Eisenbahnfriedhof in den bolivianischen Anden vom Rost zersetzt werden. Dieser „Cementerio de los Trenes' liegt in der Nähe des Salzsees von Uyuni auf fast 4000 Metern Höhe, der im ausgetrockneten Zustand wie eine gleißende Wüste der Zeitlosigkeit wirkt.
Neben diese zu Projektionsflächen werdenden Orte stellt Hartmann einerseits kleine fiktive, von Ko-Regisseur Jan Eichberg inszenierte Spielszenen, in denen die Zeit zur (schwierigen) Praxis und (Lebens-)Anschauung wird; andererseits unternimmt er, ausgelöst von persönlichen Erinnerungsgegenständen, immer wieder eigene biographische „Zeitreisen“ in die Vergangenheit, zu denen im weitesten Sinne auch Gespräche mit Familienmitgliedern gehören: intime Momente, deren dokumentarische Inszenierung der Filmemacher bewusst sichtbar macht. Dabei geht es nicht zuletzt auch um eine Art Selbsttherapie, die angesichts der Vergänglichkeit durch verschiedene gedankliche Anstöße und Einsichten zu einer leichten Besänftigung führt. In dieser (auch bildlich erhöhten) Perspektive erscheint der Tod als Verwandlung und das Leben als Zyklus wiederkehrender „Glücksschübe“. Schließlich gehe es darum, so eine Kalender-Schreiberin, hinter der man Hartmanns Mutter vermuten darf, der „Banalität des Alltäglichen“ eine Struktur zu geben und damit gewissermaßen auch eine Erinnerung zu bewahren: „Es ist zwar nicht groß was passiert, aber es war etwas da.“ Philipp Hartmanns filmische Strategie folgt vermutlich dieser tröstlichen Einsicht.