Eigentlich ist alles ganz einfach! Da ist die Flüchtigkeit des Theaters, auf dem die junge Schauspielerin Maria Enders die anspruchsvolle Rolle der jungen Sigrid in dem berühmten (fiktiven) Drama „Maloja Snake“ und in der darauf folgenden (bleibenden?) (fiktiven) Verfilmung so überzeugend interpretierte, dass sich darauf eine internationale Karriere gründen ließ, die souverän zwischen Theater und Arthaus-Kino zu pendeln verstand.
Hochkultur! Jetzt soll eben diese Schauspielerin für den (fiktiven) Autor des Stückes die Laudatio im Rahmen einer Preisverleihung halten, was sie auf nicht immer angenehme, vielleicht sogar heikle Weise mit ihrer Künstler-Biografie konfrontiert. Hat sie den Zenit ihrer Karriere bereits überschritten? Werden noch interessante Projekte angeboten werden? Doch auf dem Weg zur Preisverleihung kommt die Nachricht, dass der Autor Selbstmord begangen hat; das Treffen mit alten Freunden und Kollegen sollte im Zeichen der Trauer stattfinden, kreist jedoch eher um kaum verdeckte Eitelkeiten und buhlende Ambitionen.
Ein forscher deutscher Jung-Star-Regisseur namens Klaus Diesterweg, großartig verkörpert von Lars Eidinger, versucht Maria zu überreden, an seiner Londoner Neu-Inszenierung von „Maloja Snake“ mitzuwirken. Allerdings würde sie jetzt – 30 Jahre später – nicht mehr die Rolle der jungen Verführerin Sigrid spielen, sondern diejenige der älteren Verführten Helena, die in den Selbstmord getrieben wird. Wäre das nicht ein künstlerischer Triumph, beide Rollen in einer Karriere? Maria zögert, erbittet Bedenkzeit, sagt dann doch zu und zieht sich mit ihrer halb so alten Assistentin Valentine in die einsame, erhabene Bergwelt des Engadin zurück, um den Text zu proben.
Dabei fällt Valentine natürlich die Rolle der Sigrid zu – und mehr als einmal scheinen Konflikte der literarischen Vorlage direkt in die Realität der beiden Frauen zu münden: Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt im Dialogfluss mehr als einmal, zumal sich Valentine ihre Arbeit durch Maria nicht hinreichend gewürdigt sieht. Unklar: Legt die Arbeit am Text verdeckte Konflikte offen oder produziert der Text die Konflikte zu allererst? Als ultimativen Coup seiner Inszenierung hat sich Regisseur Diesterweg mittlerweile die Besetzung der Sigrid mit dem Nachwuchsstar des aktuellen Blockbuster-Kinos Jo-Ann Ellis gedacht, die bislang weniger im Kino als durch ihre YouTube-Präsenz reüssiert hat. Um zu erfahren, mit was hier wohl zu rechnen ist, sehen sich Maria und Valentine ihr aktuelles 3D-Fantasy-Spektakel im Kino an. Maria reagiert mittlerweile absehbar bildungsbürgerlich bis kulturkritisch auf den Quatsch, während Valentine darin doch eine unerhörte Tiefe und Komplexität erkennt.
Mit unerhörter Leichtigkeit und Souveränität gelingt es dem französischen Star-Regisseur Olivier Assayas („Ende August, Anfang September“, „Carlos – Der Schakal“, „Die wilde Zeit“) seine Generationen-Trias als vielfach vernetzten und gespiegelten Kampf um kulturelle Deutungshoheit zwischen Hochkultur, Popkultur und Celebrity-Kultur zu entwerfen. Selbst in der Abgeschiedenheit des Engadin, wohin sich Nietzsche gerne mit seinem philosophischen Hämmerchen zurückzog, sind die Neuen Medien stets präsent. Dauernd klingeln die Mobiltelefone, ständig wird gegoogelt, auch Maria, die einmal von ihrer Verachtung für das Internet spricht, hat stets ein i-Pad zur Hand, wenn neue Namen ins Spiel kommen.
Assayas, seines Zeichens erklärter Autorenfilmer, registriert solche Widersprüche, wertet sie aber nicht. Im Pressematerial zum Film schreibt er dazu: „Maria Enders blickt ins Leere und betrachtet die Frau, die sie mit 20 Jahren war: Im Grunde war sie die gleiche. Geändert hat sich die Welt um sie herum, und die Jugend hat sich verflüchtigt. Die Jugend im Sinne von Unberührtheit und dem Entdecken der Welt. (…) Auf der anderen Seite vergessen wir nie, was die Jugend uns gelehrt hat: dieses permanente Neu-Erfinden der Welt, das Entziffern der Gegenwart und den Preis, den man zu zahlen hat, wenn man dazugehören will.“ Davon erzählt der Film in mehrfach verschränkter Weise vor dem Hintergrund einer Landschaft, „an dem die Zeit keine Spuren hinterlässt“ (Assayas).
Zum Beispiel, indem er eine weitere Meta-Ebene in seinen Film einzieht: In einem Film, der auch davon handelt, wie für eine spektakuläre Theater-Inszenierung die Rollen trefflich besetzt werden, spielt der Film selbst mit den Biografien seiner Stars. Assayas selbst schrieb einst (1985) sein erstes Drehbuch für André Techinés „Rendez-vous“, der der Durchbruch für die junge Juliette Binoche werden sollte. „Twilight“-Star Kristen Stewart darf selbstironisch, oder vielleicht eben auch nicht, vom Reichtum des Kommerzkinos schwärmen und Chloë Grace Moretz, die den skandalumwitterten Hollywood-Nachwuchs spielt, ist tatsächlich Nachwuchs („Kick-Ass“), während der ehemalige Nachwuchs Kristen Stewart mittlerweile schon Richtung Arthaus tendiert. Der Schauspieler und Theaterregisseur Lars Eidinger spielt einen Theaterregisseur und Hanns Zischler, nun ja, einen eitlen Fatzke, der die besten Jahre als Schauspieler hinter sich hat.
Und als sei das alles noch nicht genug, verbeugt sich Assayas auch noch ganz nebenher vor der Filmgeschichte, indem er nicht nur an einen (nicht fiktiven) Bergfilm von Arnold Fanck über das Titel gebende „Wolkenphänomen von Majola“ aus dem Jahre 1924 erinnert, sondern auch noch die „YouTube“-Videos von Jo-Ann Ellis und die Szene aus ihrem Fantasy-Blockbuster selbst inszeniert hat. Da ist sehr viel post-moderne, auf das Mehr-Wissen des Zuschauers setzende Spielerei um Intertexte dabei, aber letztlich geht es sehr ernsthaft und reflektiert um den Wandel der Medienlandschaft, über das neu zu verhandelnde Verhältnis von Kunst und Kommerz und nicht zuletzt darum, großartigen Schauspielerinnen eine hoch intelligent gestaltete (Dreh-)Bühne für ihre (ausgesprochen unterhaltsame) Kunst zu bieten.
Der Film endet schließlich mit der Premiere des Neu-Inszenierung, aber auf dem Weg dorthin ist noch die eine oder andere Überraschung möglich, die aber an dieser Stelle nicht verraten werden soll. Als Filmmusik kommen einerseits Kompositionen von Händel und Pachelbel zum Einsatz, andererseits sind auch Primal Scream mit „Kowalski“ zu hören, was ja seinerzeit auch als eine Hommage an einen fast vergessenen (nicht fiktiven) Film gedacht war. Hauptsache, man bleibt in Bewegung!
Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Wolken von Sils Maria'.