Eine junge schwedische Familie verbringt ihren Skiurlaub in den französischen Alpen und gastiert in einem Luxushotel. Vorzeigekinder, Vorzeigepaar. Zunächst deutet auch alles in Richtung Vorzeigeurlaub: Sonne, verschneite Hänge, makellose Pisten – perfekte Bedingungen. Allerdings werden diese durch eine drohende Lawine auf die Probe gestellt. Nicht äußerlich, denn die Natur ist bereits gezähmt und kontrolliert. In „Höhere Gewalt“ werden innere Landschaften von den Schneemassen erfasst.
Bei der vierköpfigen Familie fühlt man sich an die Vorzeigefamilien erinnert, die ihr Zahnpastalächeln aus Quelle-Katalogen und Reiseprospekten hervorlächeln. Makellose Gesichter, gepflegte Körper, gleichfarbige Pyjamas. Immer das neueste Equipment dabei, für jede Situation (sei es eine Abfahrt, sei es ein Dinner im Hotel) bestens ausgerüstet. Damit die Figuren nicht zu leblosen Pappkameraden werden, wird die Perfektion auch ins Zwischenmenschliche verlängert. Das Zusammensein ist voller Verständnis, Vertrauen, Aufmerksamkeit. Die perfekte Familie.
Als alle vier beim Essen auf der Terrasse sitzen, gerät eine gesteuert ausgelöste Lawine scheinbar außer Kontrolle. Panik entsteht und lässt die Menschen von der Terrasse flüchten. Nach einigen Sekunden ist der Schreck vorbei, nur eine Nebelwand hat die Essensgesellschaft überrollt, aber keinerlei Schaden hinterlassen. Nur die Ehefrau Ebba wirkt ein wenig neben der Spur. Am Abend erzählt das Paar einer Urlaubsbekanntschaft die aufwühlenden Ereignisse und bei Ebba zeigt sich der Grund für ihre Verstörung. Nach ihrer Schilderung hat ihr Mann Tomas im Schockmoment sein I-Phone geschnappt und ist davon gelaufen – ohne sich um Frau und Kinder zu kümmern. War das reiner Instinkt oder hat Tomas die Situation nur falsch eingeschätzt?
Was Ebba eben noch mehr stört als diese Reaktion, ist Tomas‘ Versuch, diese umzudeuten und seine ängstliche Flucht mit Ausreden zu verbergen. Erst im Gespräch mit einem befreundeten Pärchen wird klar: Der Überlebenstrieb war stärker als das Bedürfnis, die Familie zu beschützen. Während der Freund Mats dies mit dem Charakter einer solchen Extremsituation zu erklären versucht, bricht Tomas bei der Frage nach dem Grund für sein Verhalten langsam zusammen. Seine Rollen als Familienvater und Mann geraten ins Wanken, die Sicherheiten im Umgang mit seiner Frau, seinen Kindern und schließlich mit sich selbst sind dahin. In der Hollywood-Dramaturgie eines Katastrophenfilmes wäre Tomas in puncto Männlichkeit auf jeden Fall durchgefallen.
Auf den ersten Blick scheint die Schrecksekunde wenig dazu geeignet, Geschlechterrollen zu hinterfragen, weil alles an persönlicher und affektiver Masse im Körper diese Fluchtbewegung besser erklären kann. Aber genau darum geht es. Denn besonders in der Diskrepanz von Ist und Soll – die Tomas in eine Sinnkrise stürzt – zeigt sich die ganze Kraft einer Geschlechtsnorm. Das Bild vom männlichen Helden ist deshalb so wirksam, weil seiner Ideologisierung und Überhöhung nichts Praktisches im Wege steht, die Zuschreibung entzieht sich quasi seiner sozialen Auseinandersetzung. Kaum jemand kommt tatsächlich in eine solche Lage und muss sich die Fragen stellen, an denen Tomas scheitert. Und diese Überforderung setzt der Film wunderbar und unterhaltsam in Szene.
Ruben Östlund setzt in „Höhere Gewalt“ (der schlichte, schönere Originaltitel „Turist“ wurde leider nicht beibehalten) mit klaren, präzisen Bildern ein einfaches Erzählprinzip um: Zeige die Menschen in ihrem Versuch, sich gegen das Scheitern zu wehren und sie sezieren sich selbst. Dass der tragische Kampf um die eigene Identität eine besonders lächerliche Note bekommt, liegt vor allem am männlichen Protagonisten, dessen Versuche, mit Geschlechtszuschreibungen und Widersprüchen fertig zu werden, auf herrliche Weise bizarr und komisch enden. Zum anderen weiß Ruben Östlund das Absonderliche durch Montage und Bildästhetik noch zu verdichten. Das Reale wirkt an vielen Stellen bis ins Skurrile überzeichnet, spätestens in den Musiksequenzen, in denen Klassik, Pistenraupen und Elektrozahnbürsten aufeinandertreffen, wird der böse Witz des Filmes deutlich. Der Mensch, seine Hilfsmittel und sein ritualisiertes Verhalten strahlen trotz aller Normalität und Kontrolle nur noch eines aus: Lächerlichkeit.
Bei der Havarie der Costa-Concordia im Jahr 2012 wurde dem Kapitän vorgeworfen, sich aus der Verantwortung gestohlen und das Schiff vorzeitig verlassen zu haben. Vollständig der Lächerlichkeit preisgegeben hat sich der Mann, als er öffentlich aussagte, er sei aus Versehen in ein Rettungsboot gefallen. Die Bildzeitung nannte ihn „Kapitän Feigling“. So viel ich mitbekommen habe, hat niemand dieser Darstellung widersprochen.