So manche und so mancher wird früher oder später mit einem Science-Fiction-Film eine Erfahrung gemacht haben, die vielleicht „auratisch“ genannt werden kann. Veranlasst wird sie durch die gelungene Projektion der kantischen Frage „Was ist der Mensch?“ auf die Leinwand und zugleich in die Weiten des Weltalls. „Odyssee im Weltraum“ mag das formal am vollkommensten getan haben, doch es gibt eine Reihe weiterer Filme, die dies auch ziemlich genial angehen. „Interstellar“ ist einer dieser Filme.
Einen Science-Fiction-Film zu drehen, heißt immer auch, an die Geschichte des Erzählfilms zu rühren, zu deren Anfang Méliès eine Reise zum Mond inszenierte. All die Irrfahrten, die seither die Leinwand bereichert haben, stehen in einem entsprechenden Verhältnis zu ihren Vorgängern bis zurück zu diesem ersten Weltraumabenteuer, welches – zum Beispiel – eine Gliederung in Vorbereitung, Aufbruch, Ankunft, Austragung eines Konflikts und Heimkehr besitzt. Legen wir einen Film vor ein derartig erschlossenes Paradigma, wird ersichtlich, wie er mit den Gemeinplätzen einer Tradition spielt, wie er etwas wiederholt, was er hinzufügt oder was er weglässt, und auch zum Teil, wie er uns dergestalt affiziert. Sich einem Film anzunähern kann also paradoxerweise auch bedeuten, sich auf der Zeitachse wieder von ihm zu entfernen. „Interstellar“ bedient sich in dieser Hinsicht traditioneller Bilder und Symbole, was den Film zuweilen auch ein wenig vorhersehbar macht; allerdings hebt er sie in eine Luft, in der sie auf ungekannte Weise leben und atmen können. Das macht diesen Film nicht nur spannend, sondern hat das Potential, selbst einem von zu vielen Dimensionssprüngen abgestumpften Sci-Fi-Fan wieder einige auratische Momente zu verschaffen. Da ich eher in ein schwarzes Loch springen würde, als von einem „emotionalen Film“ zu berichten und die Handlung zu spoilern, möchte ich stattdessen zu klären versuchen, wie das gelingt.
Zunächst wird eine unbequeme Zukunft entworfen, die von Umweltproblemen belastet ist und über die Mittel für Raumfahrt, welche als Propaganda einer vergangenen Epoche aufgefasst wird, nicht mehr verfügen möchte. Ressourcen gehen zur Neige und Umweltkatastrophen bedrohen die Menschheit. Die letzten, die verhungern, werden die ersten sein, die ersticken, heißt es da.
In dieser Situation wolle die Gesellschaft nicht mehr „pioneers“, sondern „caretakers“, wie der verwitwete Cooper (Matthew McConaughey) bedauert. Er trauert seiner Vergangenheit als Pilot nach, während er sich als Landwirt verdingt. Seine nach Murphys Gesetz benannte Tochter findet nach einem der nicht mehr ungewöhnlichen Sandstürme am Parkettboden des Wohnhauses binäre Codes, die offenbar von Interferenzen in der Schwerkraft mit Sand gezeichnet wurden. Für Cooper ist dies der Anfang einer Odyssee. Wie sich herausstellt, arbeiten Theoretiker an Formeln, mithilfe derer die Gravitation manipuliert werden kann und was der Menschheit ein extraterrestrisches Überleben sichern soll. Cooper wird mit einer kleinen Besatzung auf eine interstellare Expedition geschickt, die kein geringeres Ziel hat, als neue Welten für die Menschheit zu erkunden. So viel zur Ausgangslage.
Ich gebe zu: Was mich an diesem Film im Vorhinein am meisten reizte, war weder Regisseur, noch Topos allein, sondern Verse, die schon im Trailer von der Stimme Michael Caines rezitiert werden, just da, als die Expedition in den Weltraum startet. Ihre Rolle in dem Film ist zunächst nicht so einfach auszumachen. Sie stammen von Dylan Thomas, aus einer Villanella namens „Do not go gentle into that good night“. Die Villanella ist eine verspielte und komplizierte Liederform, die eigentlich für heitere Rundtänze verwendet wird. Thomas formulierte mit ihr eine Aufforderung an den Vater, dem Sterben Widerstand zu leisten.
Wer immer für die deutsche Übersetzung verantwortlich zeichnet, wird erleichtert gewesen sein, dass der Film nicht alle der sechs Strophen wiedergibt, denn spürbarer als viele andere lyrische Werke stellt dieses Gedicht den Übersetzer vor ein Dilemma, oder sogar vor ein Trilemma: Es kann nicht Bedeutung, Reimschema und Melodie zugleich in eine andere Sprache übertragen werden. Die Einigkeit dieser drei Momente macht sich aber „Interstellar“ in den einprägsamen Refrainzeilen zunutze, welche mit gereimten Worten über gute Nacht und sterbendes Licht etwas rätselhaft ins Weltall führen. Thomas’ Villanella berichtet darüber hinaus von einer Reihe von Typen, die gegen den Tod kämpfen: Wise men, wild men, good men, grave men. Das wird so in „Interstellar“ nicht zitiert. Weshalb? Weil dieser Film den Anspruch besitzt, diese Strophen schlicht und einfach in das Medium Film zu übertragen, insofern er uns von wise men, wild men oder grave men erzählt, die ums Überleben kämpfen. „Interstellar“ eignet sich das Gedicht an und macht aus ihm Science-Fiction, über deren Inhalt ich hier keine Worte verlieren möchte, weil sie gesehen werden sollte. – Dass das gedruckte und gebundene Wort in „Interstellar“ nur noch in seiner Materialität durch fallende Bücher repräsentiert wird, scheint analog zu diesem Übertragungsprozess zu funktionieren, der aus Schrift Film macht.
Die Science-Fiction ist nur das neueste Feld, dem sich Christopher Nolan nach Krimi, Magie, Traum und Batman widmet, um an seinen narrativen Architekturen zu werken. Dabei hat er Fingerspitzengefühl im Verkreuzen und Aufrechterhalten zahlreicher Spannungsbögen bewiesen. Auch sein neuestes Werk hebt schon in den ersten Momenten mit mehreren Erzählungen an, von denen manche im leeren Raum hängen gelassen werden: Ein sandiges Bücherregal, ein Zeitzeuge, ein Flugzeug in Turbulenzen, ein Erwachen. Was davon weitererzählt wird, verzweigt sich abermals. Bis alle erzählten Linien zusammenfinden, sozusagen doch noch als verschiedene Seiten und Stockwerke desselben Bauwerks ausgewiesen werden, vergehen beinahe drei Stunden. Dies erinnert an die Struktur der Villanella, in der zwei Refrainzeilen zunächst gemeinsam genannt werden, um danach abwechselnd und isoliert unterschiedlichen Versen nachgestellt zu sein, bevor sie zum Schluss wieder zusammenfinden.
In „Do not go gentle into that good night“ spricht ein Sohn zum sterbenden Vater. Das steht in einem direkten Verhältnis zum Konflikt, der dem Film zugrundeliegt: Denn so „groß“ sich die Problemstellung gibt (es geht um die Menschheit), so „klein“ ist eigentlich das, worauf sie aufbaut: Ein sich im Aufbruch befindender Vater verspricht seiner Tochter, zu ihr zurückzukehren. Dieses Versprechen wird durch die Schwerkraft belastet, die den Raumfahrern begegnet.
Es gibt einen schönen kleinen Film von Michael Radford, „Addicted to the stars“ heißt er, der uns die im strengen Sinne tragischen Möglichkeiten der Relativitätstheorie in ihrer ganzen Unheimlichkeit skizziert: Wenn zurückgelassene Menschen schneller zu altern drohen als der Raumfahrer, geraten die Banden der Generationen ins Wanken. Radfords Film braucht gerade einmal zehn Minuten unserer Lebenszeit, um das zu veranschaulichen. „Interstellar“ dagegen nutzt dieses Element weniger zur Veranschaulichung, sondern tatsächlich als Drohung. Ein väterliches Versprechen kreuzt sich solcherhand mit einer Aufforderung an einen Vater (jener des Gedichts), wodurch ein Gewölbe entsteht, das die Spannung gegen die drohende Schwerkraft über 169 Minuten trägt. Das ist eine beachtliche Leistung.
Selbst zu stolpern, droht der Film nur an einem Punkt. Vor allem die Ausgangslage kann und muss als Reflexion auf das Selbstverständnis unserer aktuellen Gesellschaft betrachtet werden; damit ist nicht nur die Umweltthematik gemeint, sondern z.B. auch die Gegenüberstellung von „pioneers“ und „caretakers“, die wiederum analog gelesen werden kann zu Dylan Thomas’ kraftvoller Aufforderung, dem Sterben Widerstand zu leisten, welche dem derzeit prominenteren Diskurs des „Sterben lernens“ entgegensteht. Die dergestalt geöffnete Problematik stellt der Film allerdings allzuschnell in den Dienst eines amerikanischen Fortschrittspathos. Das wirft dann die Frage auf, ob sich der Raumfahrt heute überhaupt (noch?) angenommen werden kann, ohne dass ein solches Filmprojekt nicht ebenso zu einem Werbefilm für die NASA gerate. Ein differenzierteres Vorgehen wäre hier schwieriger gewesen, hätte aber das Genre weitaus mehr bereichert.
Dennoch: Ein exzellenter Film, der empfohlen werden kann.
Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Interstellar'.