Wenn talentierte Regisseure sich an Versatzstücken des Trash- und Exploitationkinos bedienen und diese in ein modernes, realistisches Setting transferieren, entstehen oftmals unkonventionelle, faszinierende Genrefilme, die ein denkbar breites Publikum anziehen. Prominente Beispiele der letzten Jahre beinhalten so unterschiedliche Filmemacher wie Martin McDonagh, Lars von Trier sowie die beiden unangefochtenen Experten dieses Stils, David Lynch und Quentin Tarantino. Den beiden letzteren zollt der dänisch-amerikanische Regisseur Nicolas Winding Refn in seinem neuesten Werk liebevoll Tribut, ohne sich jedoch des fatalen Versuches schuldig zu machen, den jeweiligen Stil der beiden Kult-Regisseure zu kopieren. „Kult“ ist ohnehin ein gutes Stichwort für „Drive“ – kann man sich doch sicher sein, dass dieser Film in kürzester Zeit in den diffusen Kanon der sogenannten „Kultfilme“ aufgenommen werden wird, wobei er gleichzeitig interessante Fragen nach dem eigentlich Gegenstand dieser Kategorie aufwirft.
„Drive“ erzählt im Grunde eine Gangster-Geschichte, die an Simplizität ihresgleichen sucht, von einigen kleineren Wendungen einmal abgesehen: Ein ebenso namenloser wie schweigsamer Automechaniker (Ryan Gosling) verdient sich des Nachts als Fluchtwagenfahrer bei Überfällen etwas Geld hinzu – dass er dabei vermutlich der beste Autofahrer aller Zeiten ist, wird dem Zuschauer schon früh durch seine routinierte, ja beinahe maschinelle Ruhe verdeutlicht, die er in der ersten Hälfte des Films zu keinem Zeitpunkt ablegt. Dadurch strahlt er einerseits eine an die schweigsamen Revolverhelden des Westerns erinnernde Coolness, sowie eine beunruhigende, schwelende Aggression aus – eine Stimmung, die der Film geradezu perfekt einzufangen weiß. Der „Driver“ freundet sich durch einen Zufall mit der jungen Mutter Irene (Carey Mulligan) an, deren Ehemann seine letzten Tage im Gefängnis absitzt. Als dieser, wieder auf freiem Fuß, von ehemaligen Mitinsassen zu einem erneuten Diebstahl gezwungen wird, bietet der „Driver“ ihm seine Dienste an und gerät damit in eine kriminelle Verschwörung hinein, die immer weitere Kreise zieht …
Refn konstruiert seinen Film handwerklich brillant um eine kontrastreiche, dualistische Struktur herum. Der erste Teil des Films erscheint wie ein typisch amerikanisches Independent-Drama mit langen, ruhigen Einstellungen, wenigen Dialogen und wunderschönen, teilweise gar an Terrence Malick erinnernden Bildern. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Besetzung der beiden grandios aufgelegten Schauspieler Mulligan und Gosling, die, nicht nur auf Grund ihrer bisherigen Filmografie, so weit von den typischen Protagonisten des Gangster- und Action-Kinos entfernt zu sein scheinen, wie nur möglich. Nichtsdestotrotz spüren wir auch schon in dieser ersten Hälfte die unterschwellige Gewalt, die sowohl unter der Oberfläche des Plots als auch hinter dem unbewegten Gesicht des „Drivers“ schlummert – dafür sorgen ein düster pochender, elektronischer Soundtrack und kurze verstörende Momente, wie eine Szene, in der der „Driver“ einen ehemaligen „Kunden“ seines Fluchtservices plötzlich anfaucht: „How about this – shut your mouth or I’ll kick your teeth down your throat and I’ll shut it for you.“
Die zweite Hälfte des Films, in der sich Goslings Charakter plötzlich mit einer Vielzahl skrupelloser Gegner konfrontiert sieht, ändert den Ton schlagartig und drastisch. Wir befinden uns plötzlich in einem knallharten Gangster-Thriller, der sich, wie oben erwähnt, großzügig bei den Versatzstücken des ruppigen Action-Kinos der 70er und 80er Jahre bedient. Den lässigen Gangster-Sprech borgt sich der Film von Tarantino, die zwischen Idyll und Alptraum schwankende Großstadtatmosphäre erinnert eindeutig an Lynchs spätere Werke. Spannend an diesem Übergang ist vor allem die Transformation der Hauptfigur: Mit der gleichen stoischen, zielgerichteten Ruhe, mit der er zuvor seinen Alltag und seine kleinkriminellen Aktivitäten abgewickelt hat, zieht der „Driver“ nun eine bluttriefende Spur durch die Reihen seiner Gegner. Das darf man hier auch tatsächlich wörtlich verstehen: „Driver“ übertrifft an grafischen Gewaltdarstellungen einige der Grenzen des kontemporären Mainstreamkinos. Die vor Kunstblut nur so spritzenden Gewaltszenen wirken dabei aus zweierlei Gründen weder lächerlich noch überzogen: Zum einen verblüfft und verstört der extrem starke Kontrast zum ruhigen Anfang, zum anderen inszeniert Refn diese Szenen mit einer unangenehm realistischen, detaillierten Körperlichkeit – das Aufsetzen eines spitzen Nagels auf eine Stirn; das beinahe genüssliche Überstreifen von schwarzen Lederhandschuhen, als Einleitung für die darauffolgenden Schläge. Man kann dem Film durchaus vorwerfen, diese Form von Gewalt in viel zu umfassendem Maße um ihrer selbst Willen zu zelebrieren – nicht abstreiten kann man jedoch den beinahe physischen Effekt, den dieser plötzliche Stimmungswandel des Films im Zuschauer erzeugt.
Genau in diesem beiläufigen Verhältnis zu extremer Gewalt liegt zynischerweise sicherlich auch ein großer Teil des Kultpotentials von „Drive“ begründet. Seine von der wirklichen Welt seltsam losgelöste Hauptfigur erinnert an Finchers „Fight Club“, die schwelende, schließlich eskalierende Stimmung an den auch in Titel und Thema verwandten „Taxi Driver“ – beides Filme, die sich, vereinfacht gesprochen, durch die Verbindung einer mysteriös-ikonenhaften Hauptfigur mit Darstellungen extremer Gewalt zu festen Größen der Populärkultur etabliert haben. Refn scheint sich dessen durchaus bewusst zu sein, spielt mit der Idee des untypischen Actionhelden, der durch seine emotionslose Schweigsamkeit nie zur eindeutigen Identifikationsfigur wird – „How can I tell who the bad guys are?“, fragt ihn einmal Irenes kleiner Sohn. Gleichzeitig stattet ihn der Regisseur mit einigen Accessoires aus, die ihn rein optisch zu einer klar definierten Filmfigur und somit popkulturell reproduzierbar machen: So kann man sich mit Sicherheit darauf einstellen, die weiße Lederjacke mit Skorpionmotiv des „Drivers“ bald neben T-Shirts mit den Konterfeis von Vincent Vega, Tony Montana und Tyler Durden im örtlichen Kaufhaus vorzufinden.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 1/2012