I
„Sie war in den Lagern und sie ist nicht mehr sich selbst; dieses Befinden – nicht sich selbst zu sein – wird von der Handlung des Films veräußerlicht. Die Metapher wirft ein grelles Licht auf das Befinden der Selbstfremdheit und führt die Augen über das tiefe Dunkel der Lager. (…) Ich fing damit an, dass ich kein richtiger Dokumentarist sei, und weil ich glaube, dass viele Dinge nur darstellbar sind, indem man sie veräußerlicht und weit von ihrem Platz verbringt.“
– Harun Farocki, Ein Rede über zwei Filme. In: Zelluloid 1988. –
II
Deutschland, Sommer 1945, ein Auto auf dem Weg nach Westen. Auf dem Beifahrersitz eine Frau mit bandagierten Kopf. Nelly, so heißt die Frau, hat Auschwitz überhaupt nur überlebt, weil man sie nach einem Kopfschuss für tot gehalten hat. Ihre Freundin Lene fährt, als sie an einem Kontrollpunkt anhalten müssen. Der amerikanische Soldat will das Gesicht sehen und als er das Gesicht sieht, erschrickt er und winkt das Auto unverzüglich durch. Im Krankenhaus soll Nellys Gesicht operativ wiederhergestellt werden. Nelly, so der Chirurg, habe die Wahl: Zarah Leander? Oder lieber die Söderbaum? Beide allerdings gerade etwas aus der Mode. Vielleicht doch lieber was Internationaleres? Aber Nelly will ihr altes Gesicht zurück, weil sie ihr altes Leben zurück will. Sie beharrt auf einem „Weiter“, wo „Stunde Null“ gehandelt wird. Doch dahin gibt es kein Zurück, selbst wenn sich das Gespenst Nelly sich auf die Suche nach ihrem Ehemann Johnny macht, von dem sie sich Antworten auf ihre Fragen verspricht. Als sich Nelly und Johnny schließlich im Nachtclub „Phoenix“ begegnen, erkennt er sie nicht. Sein Blick geht geradezu durch sie hindurch und macht sie ein weiteres Mal zum Gespenst. Bei genauerem Hinsehen erkennt Johnny jedoch dann eine gewisse Ähnlichkeit Nellys, die sich ihm gegenüber Esther nennt, mit der vermeidlich toten Ehefrau Nelly. Johnny fasst einen Plan: er wird versuchen, aus Esther Nelly soweit zu formen, dass es hinreicht, um an die Erbschaft zu kommen, die ihre ermordeten Familienmitglieder Nelly hinterlassen haben. Johnny braucht das Geld, um neu anzufangen, Esther bekäme einen Anteil. Eine Win-win-Situation! Nelly lässt sich auf den Plan ein – und wird so zu ihrer eigenen Doppelgängerin. Für den Zuschauer ist dieser Punkt der Erzählung ganz entscheidend: er muss bereit sein, sich auf diese forcierte Dialektik von Verkennen und Erkennen einzulassen, um die so intellektuelle wie spröde Konstruktion von „Phoenix“ zu goutieren.
III
Wie schon so oft, haben der Regisseur Christian Petzold und sein ständiger dramaturgischer Mitarbeiter, der kürzlich verstorbene Dokumentarist und Filmtheoretiker Harun Farocki, sich daran gemacht, ein einmal gefundenes Thema mit reichlich Material aus der Film- und Literaturgeschichte auszufüttern, bis das geschichtete Material zu re-sonieren und räsonnieren beginnt. Ausgangspunkt war wohl die psychologische Rache- und Kriminalgeschichte „Der Asche entstiegen“ von Hubert Montheilet, die Farocki Petzold bereits 1988 ans Herz legte. Hitchcocks „Vertigo“ liefert weitere Motive, angespielt wird auf Film noir-Klassiker wie Franjus „Augen ohne Gesicht“ oder Daves‘ „Dark Passage“, aber auch Peter Lorres „Der Verlorene“ und Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“ spielen hier hinein. Aber es geht hier nicht um Cinephilie, sondern eher um die Energien, die bestimmte bekannte Konstellationen („Vertigo“) in einem neuen Erzählzusammenhang produzieren. Präzision durch Differenz. Vor allem aber geht es um das Skandalon, dass »die Deutschen« nach der Befreiung vom Faschismus keine Bilder ihres eigenen Landes in der Manier des italienischen Neorealismus sehen wollten, sondern sich lieber eskapistisch in die Heimat- und Schlagerfilme flüchteten. Diese Fluchtbewegung ist gewissermaßen das Substrat von „Phoenix“, wo nur Nelly daran glaubt, sie könne in ihr altes Leben zurück und den Neuanfang verweigern. Ihre Freundin Lene, aus gutem Haus, hat die NS-Zeit in England und der Schweiz überlebt, arbeitet aktuell für die Jewish Agency und träumt von einem neuen Leben in Palästina. Sie leidet aber auch an ihrem Schuldgefühl, überlebt zu haben. Auch Johnny träumt von einem radikalen Neuanfang, braucht dafür allerdings als Startkapital das Erbe Nellys, die er verraten hat. Folglich ist er daran interessiert, das Modell „Nelly“, das er aus Esther baut, immer auf Distanz zu halten, während Nelly hier ihre Chance wittert, Überschuss zu produzieren und ihn an die alte Liebe zu erinnern. Christian Petzold hat dies verquere Liebesspiel, das „Phoenix“ zeigt, als „Tanz“ bezeichnet, wobei nicht ausgemacht ist, wer wann dabei führt: „Er versucht, die Vergegenwärtigung der Liebe zu verhindern, und versucht, sie wiederzustellen.“ In einer Schlüsselsequenz geht es darum, Nellys Rückkehr zu den alten Freunden zu inszenieren. Johnny hat alles im Griff, er weiß genau, wie die Begegnung am Bahnhof ablaufen wird. Er will Nelly so glamourös, wie die Freunde sie in Erinnerung haben. Just like yesterday! Er weiß, dass Kontinuität gewünscht wird und niemand sich für Nellys Geschichte interessieren wird. Nach dem, was mit ihrer Tätowierung am Unterarm zu tun hat, wird niemand fragen. Man muss die alten Dinge auch mal ruhen lassen. Es ist der Sommer 1945. Johnny wird Recht behalten – und trotzdem, vielleicht, leer ausgehen.
IV
So entwirft dieses bestechend kluge Kammerspiel einen dichten filmischen Raum, dem es nicht nur zu zeigen gelingt, auf welche Schrecken der klassische Film noir ästhetisch zu antworten versuchte (und dies zeitgenössisch nur verklausuliert konnte), sondern auch noch, warum es in der deutschen Filmgeschichte keine oder nur sehr wenige Films noir gegeben hat. Überdies leistet sich Petzold den Luxus, seine Tiefenbohrung in die deutsche Geschichte mit den Schauspielern in den Hauptrollen zu unternehmen, deren Liebesgeschichte der DDR-Film „Barbara“ erzählte, was die ganze Geschichte noch modellhafter und distanzierter erscheinen lässt, bis hin zu jenem Moment, als Nelly noch einmal diesen Song von Kurt Weill („Speak low“) anstimmt, mit dem sie vor ihrer Internierung reüssierte. Ein Moment, der Filmgeschichte schreibt! Der Preis, den Petzold für das Gelingen seines überaus anspruchsvollen und widerspenstigen Projekts zu zahlen bereit ist, ist ein Mangel an jener Lebendigkeit und augenzwinkerndem narrativen Überschuss, der beispielsweise Fassbinders Geschichts-Trilogie „Die Ehe der Maria Braun“, „Lola“ und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ auszeichnete. Spröde und asketisch ist dieses konzentrierte Szenario. Konsequent, aber fast schon etwas streberhaft positioniert Petzold seine Geschichte unzweideutig mit der Widmung an Fritz Bauer, dem Generalstaatsanwalt, dessen Arbeit die Auschwitzprozesse möglich machte. Damit nur keine Missverständnisse aufkommen, in Zeiten, in denen Filme wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder „Wolfskinder“ den Deutschen längst wohlfeil und bedenkenlos die Opferrolle zuspielen. Nein, bedenkenlos ist „Phoenix“ gerade nicht, aber soll man das den Machern zum Vorwurf machen?