„Der Westen“, so lautet die erste Kapitelüberschrift des Films, besitzt weite, grüne Landschaften, die unter einem blauen, luftigen Himmel liegen, und erstrahlt in freundlichem Licht. Paradiesisch könnte man das fast nennen, läge die Coppertop Ranch in den Pioneer Mountains von Montana nicht so entlegen. Nur die vorbeifahrenden, ewig langen Güterzüge suggerieren eine Verbindung zum Rest der Welt und lassen den Ich-Erzähler T. S. Spivet (Kyle Catlett), ein hochbegabtes, genialisch veranlagtes Kind, von einem anderen Leben träumen. Denn der wissbegierige Junge und Hobby-Forscher, der seine Umgebung kartographiert, seine familiären Beziehungen graphisch darstellt und an einem Perpetuum mobile („Der heilige Gral der Erfinder“), bastelt, fühlt sich unverstanden und fehl am Platz. Sein Whiskey trinkender Cowboy-Vater (Callum Keith Rennie) zieht ihm, dem „neuen Leonardo“, seinen praktischer veranlagten Zwillingsbruder Layton vor; seine ältere Schwester hegt Schauspielerinnen-Träume und bezeichnet T. S. als Spinner; und seine Mutter Dr. Clair (Helena Bonham Carter), eine leicht verschrobene Insektenforscherin, hat nur Sinn für Käfer und Larven.
Doch dann erhält T. S. einen Anruf von der berühmten Smithsonian Institution in Washington D.C., das ihm den renommierten Baird-Preis verleihen möchte; und Jean-Pierre Jeunets phantasievoller neuer Film „Die Karte meiner Träume“ (The young and prodigious T. S. Spivit), entstanden nach dem hochgelobten Roman von Reif Larsen, verwandelt sich in ein abenteuerliches Rail- und Roadmovie. Die Lust des französischen Regisseurs am filmischen Fabulieren, sein Spiel mit dem Möglichkeitssinn der Imagination sowie seine detailverliebte Gestaltung eines kindlich-wissenschaftlichen Universums sind auch in der Aneignung eines fremden, wiewohl seelenverwandten Stoffes ungebrochen. Gedreht auf dem nordamerikanischen Kontinent, führt T. S. Spivets heimlicher Trip in Hobo-Manier, begleitet von allerlei skurrilen Gestalten, von West nach Ost, von den Bergen zu den Hochhäusern und aus der wild wuchernden Natur zur rechtwinkligen Architektur der Zivilisation. Dabei transportiert Jeunets Film nicht zuletzt filmgeschichtlich auch einige amerikanische Mythen mit sich.
Im Zentrum des teils märchenhaften Werkes steht jedoch die Verarbeitung und Bewältigung eines Traumas, das über der Familie Spivet als dunkles Schweigen lastet. Seit sich sein Bruder Layton beim gemeinsamen Spielen mit einem Gewehr erschossen hat, leidet T. S. unter Schuldgefühlen. Seine einsame Reise ins Herz der Wissenschaft bewirkt insofern auch eine Öffnung und Verwandlung, die schließlich den Familienzusammenhalt erneuert. Dass dieser mehrfache Initiations- und Reifeprozess ausgerechnet in einem Fernsehstudio vor laufenden Kameras stattfindet, wirkt in der satirischen Überzeichnung allerdings leicht oberflächlich und angestaubt. Die notwendige Kritik an wissenschaftlicher Profilierungssucht, karikierend dargestellt durch die Figur der Miss Jibsen (Judy Davis), und medialen Vermarktungsstrategien ist in Jeunets Kosmos dann doch zu nett und harmlos.