Der letzte Führerbefehl aus Berlin vom Vortag ist recht unmissverständlich formuliert: „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen!“ Stadtkommandant General von Choltitz, hoch dekoriert, hat als guter Soldat folgerichtig bereits alle Vorbereitungen getroffen und Kulturdenkmäler wie den Louvre, Notre-Dame oder Sacré Coeur verminen lassen. Alles nur noch eine Frage der Zeit. Durch die Gewalt der Explosionen wird die Seine über die Ufer treten und Teile der Stadt fluten. Unzählige Zivilisten werden sterben. In den frühen Morgenstunden des 25. August geht von Choltitz mit seinem Führungsstab die Abriss-Pläne noch einmal sorgsam Bild für Bild, Kulturdenkmal für Kulturdenkmal durch und beklommen spürbar wird für alle Anwesenden, welch einen barbarischer Akt die geplante Zerstörung von Paris darstellt.
Es ist, wie es im deutschen Film seit jeher ist, wenn Nazi-Uniformen im Spiel sind: Es gibt die Fanatiker, die Befehlsempfänger mit ihrer Verpflichtung auf den geleisteten Eid, die Mitläufer, die Zauderer und Hadernden und die Nachdenklichen, die sich vielleicht eines Besseren belehren lassen. Zu welcher Gruppe von Choltitz zu zählen ist, ist längst nicht ausgemacht. Zumal, weil jetzt das Gegenspiel in Gestalt des schwedischen Generalkonsuls Raoul Nordling auf den Plan tritt – und zwar wie ein Phantom, das sich der Geschichte des Mythos Paris durch ein Wissen um geheime Gänge und Türen versichert, indem es buchstäblich „plötzlich“ im Raum steht.
Nordling fordert von Choltitz zum ultimativen Rededuell über Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Führer oder Pflicht gegenüber dem Kulturerbe der Menschheit im Schatten des großen Tötens eines bereits verlorenen Krieges. Und überhaupt, Kerl! Wie steht es denn um die Ehre im Leib? Im Hintergrund des Rededuells, das hier furios und mitunter an der Grenze zur unfreiwilligen Komik nach allen Regeln der Kunst, aber eben gerade nicht auf Augenhöhe geführt wird, tickt unablässig die Uhr: die Alliierten marschieren auf Paris vor, die Résistence probt den Aufstand, in den Vorstädten wird bereits gekämpft. Paris – der Zuschauer weiß das natürlich – wurde nicht zerstört, sondern blieb sogar vergleichsweise unversehrt, weil von Choltitz aus teilweise heute noch nicht geklärten Gründen dann doch lieber kapitulierte, als Hitlers Befehlen zu gehorchen. Vielleicht, weil er ahnte, was ihm widerfahren würde, fiele er anschließend den Alliierten in die Hände.
Volker Schlöndorffs filmische Adaptation des gleichnamigen Theaterstücks von Cyril Gély, die sogar auf die beiden vorzüglichen Hauptdarsteller der Inszenierung am Pariser Théâtre de la Madeleine setzt, inszeniert das gewichtige Rededuell zweier gegensätzlicher Figuren als psychologisches Kammerspiel, das sich schnell als eine offene und auch autobiografisch unterfütterte Liebeserklärung des Filmemachers an Paris erweist. „Uns bleibt immer Paris!“, heißt es bereits in „Casablanca“. Vielleicht hat der Führer ja im Bunker den Film gesehen und bei sich händereibend gedacht: „Das ist noch nicht ausgemacht!“
Tatsächlich hantiert die rhetorische Auseinandersetzung in „Diplomatie“ immer auch mit den Bildern und Vorstellungskomplexen von „Paris“, die im kollektiven Unbewussten wohlfeil kursieren. Es ist Nordling, der immer wieder ansetzt und die Imagination seines Gegenübers füttert, um dem General klar zu machen, was hier ganz konkret auf dem Spiel steht, wenn er sich in den Befehlsnotstand flüchtet. Jenseits der Rhetorik bleibt allerdings seltsam unbestimmt und mysteriös, wessen Spiel Nordling hier eigentlich spielt, wann er droht oder wann er lediglich blufft. Wenn die Worte keine Wirkung mehr entfalten, tut ein Blick vom Balkon auf Paris ein Übriges – und die Auseinandersetzung geht in die nächste Runde.
Dabei ist zwar verbürgt, dass diese Begegnung historisch stattgefunden hat, aber Schlöndorff und Gély nutzen die Freiheit der Fiktion zur dramatischen Verdichtung. Die Theater-Apparatur bleibt dabei stets sichtbar, wenn wieder mal ein Bote ins Zimmer stürzt oder ein Telefon klingelt, während ein paar konventionell inszenierte Action-Szenen vor dem Hotel Meurice wohl eher ein (überflüssiges) Zugeständnis an ein Kino sind, das darüber hinwegtäuschen möchte, dass es sich eigentlich um ganz altmodisches Schulfernsehen handelt. Schulfernsehen vor Guido Knopp! Wobei das dokumentarische Wochenschau-Material von der Befreiung von Paris, das der Film einsetzt, als „Rahmen“ durchaus hingelangt hätte. „So hätte es gewesen sein können!“
„Diplomatie“ singt auf recht unspektakuläre, ja, papierne Weise ein Hohelied auf die Kraft des Diskurses in dunkler Zeit und fügt – wie zuletzt schon „Monuments Men“ – ein weiteres Puzzleteilchen in das große Bild, wie persönliches Engagement und Zivilcourage Einzelner dazu beigetragen hat, inmitten der Barbarei das kulturelle Erbe zu bewahren. Dass Paris nicht zerstört wurde, bot der deutsch-französischen Nachkriegsgeschichte einen Ansatzpunkt. Dass Paris nicht zerstört wurde, machte die Karriere des Austauschstudenten Volker Schlöndorff überhaupt erst möglich. Dass Geschichte hier wieder von großen Männern geschrieben wird, ist der Preis, den „Diplomatie“ und Schlöndorff dafür zu zahlen bereit sind.