Als im vergangenen Herbst „Oktober November“, der neue Film des österreichischen Autorenfilmers Götz Spielmann, im Rahmen der Hofer Filmtage gezeigt wurde, stach er gerade durch seine Zärtlichkeit und Achtsamkeit auf fast schon obszöne Art und Weise aus dem herrschenden Mittelmaß der deutschsprachigen Filmproduktion heraus. Im Rahmen einer durchaus nicht unkonventionell, dafür aber extrem präzise angelegten und nicht in Dialog überführte psychologische Familiengeschichte ist es Spielmann mit großer Meisterschaft gelungen, anhand diverser, miteinander eng verzahnter und einander spiegelnder Konfliktfelder mustergültig einen ganzen Katalog von Fragen um das Thema der Identität aufzufächern, Schicht um Schicht.
Anhand der scheinbar nur skizzierten, tatsächlich aber seriös in der Tiefe verankerten Lebensläufe seiner Figuren stellen sich Fragen wie „Warum bin ich so, wie ich bin?“ oder auch „“Bin ich das, was ich sein kann?“ Das klingt jetzt vielleicht philosophisch schwerblütig, aber es gelingt Spielmann, seinem Kameramann Martin Gschlacht und einem Ensemble erstklassiger Darsteller wie Ursula Strauss, Nora von Waldstätten oder Peter Simonischek diese komplexe Familienaufstellung so packend wie einen Abenteuerfilm zu gestalten – ohne auf die Klaviatur des Melodrams zu setzen. Wie in seinem „Oscar“-nominierten Vorgänger „Revanche“ (2008), der auch bereits von Freiheit und Schicksal, von Träumen und Illusionen erzählte, wählt Spielmann einen separaten Zugang zu seinen Figuren, bevor er die Handlungsebenen miteinander verschränkt.
Da ist Sonja, die einst die väterliche Gastwirtschaft in der österreichischen Provinz hinter sich ließ, um in Berlin ein Filmstar zu werden. Wir erleben Sonja als professionell und unterkühlt, wenn sie mit einem Kollegen Essen geht oder sich mit Produzenten trifft und souverän-ehrgeizig bei der Arbeit an einem Fernsehkrimi. Begegnungen mit einem Ex-Geliebten und vor allem mit dessen Ehefrau offenbaren dagegen Sprünge und Widersprüche zwischen öffentlicher Maske und ihrer Persönlichkeit. Von einer Depression ist kurz die Rede. Sonjas Schwester Verena ist im Dorf geblieben, ist dem patriarchalen Vater beigestanden, als die Mutter früh starb. Sie hat einen gutmütigen Mann geheiratet und ist Mutter eines Sohnes. Sie, die es wohl nicht mögen würde, »bodenständig« genannt zu werden, überrascht uns mit einem Verhältnis zum Landarzt Andreas, der sich seinerseits für ein zurückgezogenes Leben mit seinen Büchern entschieden hat. Er wird wohl seine Gründe dafür gehabt haben.
In diese Konstellation kommt nun Bewegung, als der übermächtige Vater, schon länger nicht gesund, einen schweren Herzinfarkt erleidet, den er nur überlebt, weil Verena geistesgegenwärtig genau das Richtige tut. Nach seiner Nahtoderfahrung scheint der Vater verändert, ganz im Reinen mit sich und der jetzt in seinen Augen vernünftigen Weltordnung. Auch Sonja reist ans Krankenbett und damit zurück in eine Welt, die sie hinter sich gelassen zu haben glaubt. Alte, längst verdrängte Konflikte brechen auf.
Spielmann hat „Oktober November“ im Gespräch als ein „episches Kammerspiel“ bezeichnet, als episch erzähltes Kino ohne den Aufwand des epischen Erzählens. Die Fragen nach der Identität, die der Film jetzt entschieden aufwirft, führen weit zurück in die Kindheit der beiden Schwestern, die sich ja längst einen (nicht stimmigen) Reim auf ihr Leben gemacht haben, der das Gegenüber immer mitdenkt. Auch dies ein Grundmuster autobiografischen Erzählens, das Spielmann nicht nur konstatiert, sondern vielleicht auch kritisiert. Und jetzt heißt es plötzlich mit Nachdruck: „Bin ich das, was ich sein will, vielleicht sein kann?“ Sonja ist ein Profi darin, ihr Leben so oberflächlich zu erzählen, dass es ein rundes, stimmiges Bild ergibt. Dass dies einer Kraftanstrengung bedarf, die bald nicht mehr zu leisten sein wird, wird ihr klar, als der Arzt Andreas ihr Flirtangebot kühl abweist: „Bewundert und geliebt zu werden? Geht das überhaupt zusammen?“
Es bedarf keiner theatralisch inszenierter Invektiven, um die scheinbar massive Beziehungslandschaft dieser Familie im Angesicht des Todes und im Bewusstsein der Sterblichkeit zu verflüssigen, aber der Film leistet sich trotzdem den Luxus eines Theatercoup, der die komplette Familiengeschichte in ein anderes Licht rückt, bestimmte gut eingeübte Zuschreibungen auflöst und das Motiv des Ehebruchs als Variation der Frage „Bin ich das, was ich sein kann?“ erscheinen lässt. Spielmann wertet auch hier nicht, sondern macht seine Erzählung durch diesen Schachzug so kompliziert und unberechenbar, dass zumindest für Sonja der Boden unter den Füßen wegbricht.
„Oktober November“ gibt keine Antworten, sondern beschränkt sich gewissermaßen ganz auf die Kunst, mit großer Verbindlichkeit präzise Fragen zu stellen. Mit einer großen Selbstverständlichkeit, die auch im Falle von „Revanche“ überraschte und überzeugte, wagt sich Götz Spielmann heran an die spirituelle Dimension seiner Geschichte, die sie in seinen Augen erst zur Kunst macht. „Kunst ist doch überhaupt erst dann relevant, wenn sie auch eine spirituelle Ebene hat. Wo die fehlt, ist es bloß bebilderte Ideologie für eingeweihte Konsumgruppen, die sich wechselseitig ihre Urteile und Vorurteile bestätigen“, erklärt der Filmemacher selbstbewusst auf Nachfrage. So selbstbewusst, dass er sogar das unerhörte Risiko eingeht, das präzise und auf genauer Beobachtung basierende Spiel seiner Darsteller mit dem mittelmäßigen Filmemachen am Fernsehspiel-Set zu kontrastieren. Das ist schon ein unerhörter Streich! Mittelmäßige Kunst durch große Kunst, die hier durch Achtsamkeit, Humanismus und Kritik am status quo entsteht, nicht nur zu kritisieren, sondern ihr sogar einen Platz im Diskurs einzuräumen, ist nicht zuletzt ein riskantes Kompliment in Richtung des Kinozuschauers, auf dessen wachen Verstand Götz Spielmann setzt. Er geht mit seinem Meisterwerk gewissermaßen in Vorleistung. Und es ist natürlich auch eine Herausforderung für Nora von Waldstätten, die in einem gelungenen Film gleichzeitig auch noch den Star in einem mittelmäßigen Film geben muss, der wiederum für Spielmann durchaus repräsentativ fürs Ganze sein dürfte.