Der Vorspann ist einer der schönsten, die ich seit langem gesehen habe. Ein gelber Fiat fährt eine Straße in den Bergen entlang. Die Sonne taucht den Fiat, die Straße, die Berge und den Himmel in golden-gleißendes Licht. Zu den goldenen Bildern vom Mann am Steuer, der eine Zigarette anzündet und sie der Frau auf dem Beifahrersitz gibt, dem Tuch der Frau, das golden aus dem Autofenster in der goldenen Luft weht, spricht die Stimme Manuela Martellis aus dem Off die ersten Sätze von Roberto Bolaños „Lumpenroman“: „Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle. Mein Bruder und ich hatten unsere Eltern verloren. In gewisser Weise rechtfertigt das alles. Wir hatten niemanden. Und das alles buchstäblich von heute auf morgen.“ Dann kommt der Titel auf uns zugeflogen: „Il futuro“ steht da, in goldenen Lettern, die aus der Vergangenheit des Kinos zu uns herüber zu leuchten scheinen (vielleicht aus einem peplum, einem jener Sandalenfilme, die in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern das Gros der italienischen Filmproduktion ausmachten und die in „Il futuro“ eine gewisse Rollen spielen werden).
Wenn das grell goldene Sonnenlicht den Titel vollständig aus dem Bild getilgt hat, ist der Blick frei auf einen grauen und ganz und gar gegenwärtigen Himmel. Von hier wandert die Kamera langsam über ein paar gesichtslose Wohnblocks, über die Autobahn zu einem Schrottplatz, wo die knapp zwanzigjährige Bianca (Manuela Martelli) und ihr etwas jüngerer Bruder (Luigi Ciardo) besichtigen, was von dem elterlichen Auto noch übrig ist. Aschgrau verkohlt ist das Auto, von dem Bianca meint, es müsse doch gelb sein. Ihr Bruder erklärt ihr, dass das durch den Zusammenstoß komme, der alles verändere, die Form, die Farbe, alles. Tomás heißt der Bruder im Film, der im Roman namenlos bleibt wie alle männlichen Figuren – bis auf eine, die so viele Namen hat, dass sie, mehr noch als die Namenlosigkeit der anderen Männer seine Identität nicht preisgibt, sondern eher hilft, sie zu verbergen.
Bianca und Tomás müssen sich nun alleine in der elterlichen Wohnung zurechtfinden. Zur Schule gehen sie bald nicht mehr. Bianca wäscht in einem Friseursalon Haare, Tomás putzt in einem Fitness-Studio. Von dort bringt er eines Nachmittags zwei Männer mit, die fortan bei ihnen wohnen werden, im Schlafzimmer der Eltern. Bianca schläft mit ihnen, mal mit dem einen, mal mit dem anderen. Gemeinsam mit dem Bruder entwerfen die beiden einen Plan, dessen Ausführung Bianca übernehmen soll. Es geht dabei um Maciste (Rutger Hauer), der einst als Schauspieler in pepla zum Star wurde und es als Bodybuilder bis zum Mister Universum brachte. Seit er bei einem Autounfall das Augenlicht verloren hat, lebt er vollkommen zurückgezogen in seinem riesigen Anwesen. Bianca soll ihm Gesellschaft leisten, Sex mit ihm haben – mit dem Ziel, den Tresor zu finden, in dem er, so glauben zumindest die beiden jungen Männer, seine verbleibenden Reichtümer versteckt.
Bolaños „Lumpenroman“ zu verfilmen, erscheint zunächst als eine denkbar undankbare Aufgabe. Hinter der Kleinheit dieses Büchleins (von der im spanischen Original-Titel der Diminutiv kündet: „Una novelita lumpen“) versteckt sich eine denkbar große Radikalität. Diese Radikalität besteht darin, den Bericht einer jungen Frau von allem zu befreien, was ihm von außen aufgepfropft erscheint. Entwicklungsroman, Coming-of-Age, Sozialdrama, die psychologische Erzählung von der Verarbeitung eines Traumas, die feministische Erzählung der Emanzipation einer jungen Frau, die sich in einer Männerwelt ihren Platz und ihre Unabhängigkeit erkämpft; all das muss wohl zwangsläufig mitgedacht werden, aber eben als etwas Abwesendes – wie die Eltern. Der „Lumpenroman“ ist ganz und gar Biancas Roman.
Das „Ich“, das vom ersten Satz des Romans an zu uns spricht, formiert sich doch erst nach und nach, während des Sprechens, es ist kein vorgefertigtes, sondern im ständigen Werden begriffen. Die radikale Subjektivität Biancas, die auf nichts weniger hinauswill als die Utopie eines Subjekts, das kein bürgerlich psychoanalytisches und kein normativ gegendertes ist, entsteht im Roman unter anderem durch die Entsubjektivierung der anderen-, der Männerfiguren. Über ihren ersten Eindruck von den beiden Männern berichtet die Ich-Erzählerin: „Der eine war Bologneser, der andere Libyer oder Marokkaner. Trotzdem sahen sie aus wie Zwillinge. Der gleiche Kopf, die gleiche Nase, die gleichen Augen. Sie erinnerten mich an eine Tonskulptur, die ich vor kurzem in einer Zeitschrift im Friseursalon gesehen hatte.“ Eine der nächtlichen Zusammenkünfte mit einem der beiden beschreibt sie mit den Worten: „An manchen Abenden (…) öffnete ich einem der Freunde meines Bruders die Tür, ließ aber das Licht aus und hielt die Augen geschlossen, denn unter keinen Umständen wollte ich wissen, wer von beiden mit mir schlief, und gab mich mechanisch hin und kam manchmal mehrmals hintereinander, worauf ich zuweilen mit heftigen, überraschenden Wutausbrüchen reagierte. Der Freund meines Bruders fragte mich dann, ob es mir nicht gut gehe, ob etwas mit mir sei, ob ich meine Tage kriegte, bevor er weiter redete und am Ende noch seine Identität verriet, erwiderte ich, er solle den Mund halten, oder machte Schscht, und er verstummte und vögelte wortlos weiter, so groß war die Überzeugungs- oder Überredungs- oder Ausredungskraft, die meine Worte mittlerweile besaßen.“
Es ist schwierig, diese Geschichte in Bildern zu erzählen. Die Geschichte einer Frau, die wird, von Männern, die verschwinden; einer Frau, die nur in dem Maße werden kann, wie die Männer um sie herum verschwinden. Die visuelle Abbildung hat etwas viel „Fertigeres“, „Kompletteres“ an sich als das geschriebene Wort, das durch diesen Umstand wesentlich geeigneter erscheint, bruchstückhaft von einer bruchstückhaften Biografie zu erzählen. Bianca, die Frau, die erst wird, hat im Film von Anfang an einen „fertigen“ Körper und ein Gesicht, während die Männer, die langsam verschwinden, ihre Körper und ihre Gesichter behalten.
Wie stellt sich die in Chile geborene Regisseurin Alicia Scherson, die auch das Drehbuch verfasste, dieser Aufgabe? Nun, zum Beispiel mit Bildern von Gesichtern, die in den Spiegelungen in Scheiben verschwimmen oder sich in Zigarettenrauch aufzulösen scheinen. Mit gleißend hellem und immer wieder golden scheinendem Licht. Mit einem sehr präzise beobachtenden Kamera-Blick, der eine Fülle winziger alltäglicher Details offenbart, die ihn aber mehr als Dinge an sich interessieren, in Hinblick auf ihr – irgendwie geheimnisvolles – Sein, als weil sich irgendwelche sozialen Realitäten von ihnen ablesen ließen. Mit teilweise recht langen und statischen Einstellungen, die mitunter von überwältigender Schönheit sind. Nur zwei Beispiele: In drei Einstellungen ist der Wohnblock zu sehen, in dem die Geschwister leben. Eigentlich denkbar trist mit der verrußten Fassade, den Sattelitenschüsseln und dem Gewusel von Fernsehantennen auf dem Dach, bekommen die Häuser vor dem Abendhimmel, an dem Wolken vorüberziehen, eine entrückte Schönheit, eine Würde, die mit gängiger Ghettoromantik nichts zu tun hat. In einer Szene sieht Bianca mit ihrem Bruder und den beiden Männern fern. Durch den Rahmen der Tür gefilmt, sieht man die vier jungen Menschen auf dem Sofa sitzen, die Fernsehbilder werden reflektiert durch einen Spiegel an der Wand hinter ihnen. Einer der jungen Männer isst eine Banane, ein anderer beantwortet die Fragen aus der Quizshow im Fernsehen, bevor die Kandidaten dort es tun. Als Bianca die Männer auffordert, leise zu sein, verstummen die Gespräche. Dass die Hierarchien nichts mit gängigen Sozialdramen-Familien-Hierarchien gemein haben, gibt dem Alltäglichen dieser Szene einen utopischen Anstrich, der weit jenseits eines jeden „Realismus“ liegt.
Schließlich ist da das wunderbare Zusammenspiel von Manuela Martelli und Rutger Hauer. Zwischen dem Mann, der nichts hat außer seiner Vergangenheit und der Frau, die nichts hat außer eine Zukunft, die ganz ihre sein wird, besteht von der ersten Szene an eine Verbindung, die Bianca zu den gleichaltrigen Männern niemals finden könnte. Dass die Dialoge zwischen ihnen in Englisch sind, während sie mit den anderen Männern Italienisch spricht, mag hiervon Zeugnis ablegen. Wenn er ihren ganzen Körper mit Öl einreibt, ist es wieder da, dieses golden glänzende Licht, das im Vorspann mit den Eltern mit der Vergangenheit assoziiert wurde. Hauer tut nichts, um der jungen Frau die „Show zu stehlen“. Überhaupt tut er nicht viel, außer präsent zu sein, als eine ständig im Verfall begriffene Männlichkeit, die er eher verkörpert als spielt. Wie insgesamt die Virilität in diesem Film eine sehr brüchige ist, deren heterosexuelle Performance beständig in den reinen Camp kippt – sei es in den alten Sandalenfilmen, die sich Bianca ansieht, sei es in einem Bodybuilding-Contest.
Dem entgegen steht der weibliche Körper, der wird, indem er sich seiner selbst und der eigenen Lust bewusst wird. Der sich nicht ausbeuten, nicht für männliche Pläne instrumentalisieren lässt. Eine Weiblichkeit, die weder „Zuhälter“ noch „Retter“ braucht. So leuchtet der Abendhimmel in der letzten Einstellung rötlich, ins Gelbgoldene spielend nur noch für Bianca.
Alicia Scherson hat aus Roberto Bolaños schön radikalem Büchlein einen radikal schönen Film gemacht.
„Il futuro“ wird am 28. Mai von good!movies / Real Fiction auf einer mal wieder auffallend schlichten DVD veröffentlicht. Darauf zu finden ist der Film in italienisch-englischem Original-Ton oder deutscher Synchronisation, zudem gibt es deutsche Untertitel und zwei Trailer. Auf weitere Extras und ein Wendecover muss man leider verzichten.