Was ist eigentlich mit dem deutschen Kino los? Da hat man sich bequem in seinen Vorurteilen eingerichtet und ein für alle Mal beschlossen, dass die Deutschen einfach kein Genrekino können (bzw. es nicht einmal mehr versuchen). Und dann begegnet einem mit Andreas Prochaskas „Das finstere Tal“ ein exzellenter deutsch-österreichischer Western, kurz darauf mit Jakob Lass‘ Mumblecore-Indiefilm „Love Steaks“ eine tatsächlich lustige Komödie – und nun mit Maximilian Erlenweins „Stereo“ auch noch ein Thriller, der sich ganz bewusst auf das Formelhafte des Genrefilms bezieht und wider Erwarten sowohl campy als auch effektiv ist.
Dabei fängt „Stereo“ scheinbar so vorhersehbar und fernsehfilmtauglich-seriös an: Jürgen Vogel spielt einen Motorradfan und Mechaniker, der die Großstadt Berlin hinter sich gelassen hat und nun in der brandenburgischen Provinz mit der etwas verhuschten alleinerziehenden Julia (Petra Schmidt-Schaller) zusammenlebt. Erik, von Vogel sehr physisch angelegt – verschwitzt, mit Glatze, knarzender schwarzer Lederjacke und Motoröl an Armen und im Gesicht, aber durch ein albernes „Halunke“-Tattoo als Softie unter harter Schale markiert – kümmert sich liebevoll um Julias Tochter und hat sich auch sonst gut in die kleinbürgerliche Idylle eingefügt. Doch, ach, unser Held hat einen Psychoknacks: Er sieht immer wieder einen merkwürdigen Mann im Kapuzenpulli, der ihn beobachtet. Hinzu kommt, dass auf der Straße dubiose Gestalten herumlungern, die sich bald als Roma-Gangster entpuppen, die – der Zwangscharakter kann es sich wohl nicht anders zurechthalluzinieren – flugs die blond-blauäugige Tochter Julias bedrohen. Der medial hysterisierte angebliche Kindsraub eines blonden Mädchens durch „Zigeuner“ im letzten Jahr wird hier also gleich mitverarbeitet.
Es kommt schließlich, wie es kommen muss: der mysteriöse Fremde im Kapuzenpulli (Moritz Bleibtreu, hier erstmals zusammen mit Jürgen Vogel gemeinsam in einem Film) erweist sich als Einbildung. Was nun aber zum Melodram mit Betroffenheitsbotschaft werden könnte, unterläuft Regisseur Maximilian Erlenwein gleich wieder, indem er die Handlung kurz darauf den nächsten Haken schlagen lässt und entschlossen in die Richtung schwarzer Humor wechselt. Denn Henry (Bleibtreu) gibt sich nicht mit der Funktion als ärgerliche bis potentiell gefährliche Halluzination zufrieden, sondern geriert sich im Folgenden als böses Alter Ego des Helden und versucht, diesen mit mephistophelischen Einflüsterungen zum Bösen zu verführen. Etwa: die nette, aber auch ziemlich normal-langweilige Freundin mal so richtig durchzuvögeln (ohne Vorspiel und Kuscheln danach, von hinten über dem Küchentisch zum Beispiel). Oder: die Ersatz-Kleinfamilie einfach zu verlassen und mit den dubiosen Gestalten, die Erik noch immer belagern und im Gegensatz zu Herrn Bleibtreu bedeutend realer sind, gemeinsame Sache zu machen und einen Mord zu begehen. Der Besuch beim Psychiater hilft auch nicht, bietet aber eine wunderbare Möglichkeit für Fabian Hinrichs, seine Rolle aus Doris Dörries „Alles inklusive“ ganz großartig zu variieren und eine weitere gnadenlos herablassende und bevormundende Arztfigur abzuliefern. Bald darauf kommt dann Georg Friedrich, der sowieso jeden Film veredelt, als tätowierter Oberlude und antisozialer Gangsterboss ins Spiel; Vogel und Bleibtreu wechseln zu dem schönen Satz: „Und du, mein Freund, bist der Böse…“, die Rollen – und der Film vollzieht beherzt die Volte ins endgültig Irreale: Twilight Zone Germany.
Von diesem Punkt aus könnte man Erlenweins Film nun rückblickend als den Versuch eines verunsicherten Familienvaters in der Midlife-Crisis lesen, sich eine Vergangenheit als ein ganz anderer zu erfinden, als betont männlicher und rücksichtsloser Mann, als Gangster; sich jedoch für diesen Tagtraum sogleich zu bestrafen, indem er seine Phantasie mit einer imaginierten tragischen Vergangenheit ausstattet. Oder aber man versteht „Stereo“ als Geschichte einer Psychose, ausgelöst durch ein Trauma, das sich ganz konkret im Erleben und Körper materialisiert (ähnlich etwa Cronenbergs Wutmutationen in „The Brood“ / „Die Brut“; 1979). Aber auch wenn solche Lesarten fraglos in Erlenweins Psychothriller angelegt sind, so möchte „Stereo“ doch letztlich von seinem Publikum als deftiger Ausflug ins Genrekino verstanden werden. Was alles andere als eine schlechte Herangehensweise ist.
Das Ergebnis jedenfalls ist technisch und ästhetisch elaboriert. Besonders hervorzuheben sind das wuchtige Sounddesign, der Elektro-Score von Enis Rotthoff und die eleganten Bilder des deutsch-vietnamesischen Kameramanns The Chau Ngo. Die Kamera ist in „Stereo“ sehr oft in Bewegung: Sie schweift und gleitet, umzirkelt und kreist, zitiert einmal sogar in einer direkten Referenz Michael Ballhaus‘ berühmten 360-Grad-Schwenk aus „Martha“ (1974). Mit solchen oft überdeutlich ausgestellten Stilmitteln erschafft Erlenwein eine dezidiert antinaturalistische Atmosphäre, durch die sich „Stereo“ zwischen den drastischen Traditionen des Exploitation-Kinos und den Kunstwelten des US-amerikanischen, europäischen und asiatischen Independent-Genrefilms verortet. Dabei arbeiten die Bilder, die mehr als einfach nur sehr gutes Handwerk sind, von Anfang an gegen die geweckten und bald hintertriebenen Erwartungen. Da wirkt ein 70er-Jahre-Camper inmitten der brandenburgischen Landschaft weniger wie ein Relikt der Vergangenheit als ein Brückenpfeiler hinüber in das Backwood-Americana von Tobe Hoopers Terrorfilm-Klassiker „The Texas Chain Saw Massacre“ („Blutgericht in Texas“; 1974). Wobei das hier evozierte Blutbad tatsächlich gegen Ende des Film eingelöst wird, als „Blutgericht in Brandenburg“ gewissermaßen, in einem heftigen letzten Akt, der sich in einem Club ereignet, der ebenso an die osteuropäischen Neon-Folterhöllen aus den „Hostel“-Filmen (2005-2011) erinnert wie er metaphorisch als Reise ins Innere funktioniert – des Körpers, der Psyche, der Vergangenheit, und vor allem: der Gewaltgeschichte des Protagonisten, die hier mit aller Macht an die Oberfläche drängt.
Visuell und thematisch bezieht sich Erlenwein dabei auf Vorbilder, die die Latte ziemlich hoch hängen: Da wäre Martin Scorseses „Amazing Stories“-TV-Episode „Mirror, Mirror“ (1986), „Mindfuck“-Filme wie David Finchers „Fight Club“ (1999) und David Cronenbergs „Spider“ (2002), ebenso Cronenbergs „A History of Violence“ (2005) und Chan-wook Parks „Oldboy“ (2003). Hinzu kommen Schnipsel und Momente aus unzähligen anderen Filmen, die für die filmische Sozialisation des Filmemachers offenbar prägend waren. Der Regisseur nennt in Interviews gerne Henry Kosters James-Stewart-Vehikel „Harvey“ („Mein Freund Harvey“; 1950). Aber da ist noch vieles mehr: Da gibt es etwa einen Mexican standoff, der an „Reservoir Dogs“ („Reservoir Dogs – Wilde Hunde“; 1992) erinnert. Oder Verwesungsfarben wie im Neo-Körperhorrorkino der letzten Dekade (Berlin erstickt hier geradezu in giftigsten gelb-grünen Farbfiltern). Visuelle Motive wie Aufsichten von nach innen gewundenen Treppenhäusern evozieren selbstbewusst die Bildwelten des klassischen Film Noir und des neoklassischen Paranoia-Kinos. Und wenn Moritz Vogel/Jürgen Bleibtreu sich zu pulsierenden Beats in eine Disco-Unterwelt begibt, um sich Friedrichs schmierigem Zuhälter entgegenzustellen und um seine Frau zu kämpfen, dann erinnert das bestimmt nicht zufällig an Christian Slaters psychotischen Elvis-Fan in Tony Scotts „True Romance“ (1993). Das wirklich Überraschende ist: dass das alles weder anmaßend noch epigonal wirkt. Es ist vor allem eine Verortung in einem generischen Referenzraum und gegenüber filmischen Vorbildern, die zu den stilprägenden Werken der letzten Jahre zählen. Und das ist letztlich auch ein Ausweis dafür, dass die Filmemacher etwas von ihrem Handwerk verstehen.