„Jesus wird zum Tode verurteilt“, lautet die erste der insgesamt vierzehn Stationen des Kreuzweges, der in Erinnerung an die Passion Christi dessen Leiden und Sterben nachzeichnet. „Kreuzweg“ heißt auch der neue, formal strenge Film von Dietrich Brüggemann, der analog dazu in vierzehn langen, ausgefeilten Bildeinstellungen diesen Weg der Schmerzen mit der Opfergeschichte eines jungen, heranwachsenden Mädchens synchronisiert. Im ersten Bild, dessen Komposition entfernt an Leonardo da Vincis „Abendmahl“ erinnert und in dessen Mitte der junge, äußerst eloquente Pater Weber (Florian Stetter) dominiert, wird gewissermaßen der Keim für das nachfolgende Verhängnis gelegt. Der katholische Geistliche einer fiktiven fundamentalistischen Gemeinde namens St. Paulus, deren Religionsverständnis an die Piusbrüdergemeinschaft angelehnt ist, unterrichtet eine Gruppe von Jugendlichen, die kurz vor ihrer Firmung stehen. Zu seiner rechten sitzt die 14-jährige Maria Göttler (Lea van Acken), eine ebenso gelehrige wie empfindsame Schülerin, deren Opfergang der Film im Folgenden zeigt.
Während der Priester als freundliche, aber bestimmte Autorität Glaubensinhalte abprüft oder vermittelt, reagieren die aufgeforderten Firmlinge nur mit knappen, eingeübt wirkenden Antworten. Dabei spürt man die ganze Unsicherheit ihres Alters, ihre offene, verletzliche Suche nach Orientierung, die so leicht manipulierbar ist. Und man ahnt und sieht, wie ihre Seelen in der Konfrontation mit religiösen Ideen, die auf Entsagung, Verzicht und Opferbereitschaft zielen, in Unruhe geraten und wie ihr Gewissen einem immensen Druck ausgesetzt wird. Ihr dozierender Lehrer spart dabei nicht an Kriegsmetaphorik, um den schwierigen Konflikt zwischen Glauben und profaner Gesellschaft in seinem Sinn zu befeuern: Die Firmlinge seien „Soldaten Jesu Christi“, die für ihren Glauben in eine „Schlacht“ zögen, in der sie notfalls auch bereit sein müssten, zu sterben. Zu dieser letzten Konsequenz sieht sich zunehmend Maria gezwungen.
Das Spannungsfeld, in dem dies geschieht, wird durch drei weitere Figuren bestimmt. Während ihr Mitschüler Christian (Moritz Knapp), ein für sein Alter ungewöhnlich einfühlsamer und rücksichtsvoller Junge, Marias Nähe und Freundschaft sucht, wird alles „Weltliche“ und deshalb potentiell Sündige von ihrer unnachgiebig strengen Mutter (Franziska Weisz) torpediert, die unbedingten Gehorsam fordert, in der Charakterzeichnung aber mitunter zu holzschnittartig wirkt. Als große, um Ausgleich bemühte Vermittlerin der gegensätzlichen Pole fungiert wiederum das französische Au-pair-Mädchen Bernadette (Lucie Aron), zu dem sich Maria besonders hingezogen fühlt. In einer der intensivsten und erschütterndsten Szenen, die in einer Arztpraxis spielt, sieht man dem eskalierenden Zerren und Ringen um die Seele des hilflosen, in eine schier ausweglose Situation geratenen Mädchens zu, das unter dem Psychoterror ihrer Erzieher förmlich zerbricht.
Konzentriert und genau erforscht Dietrich Brüggemann die Gewissensnöte eines jungen Menschen, der den Freiheitsentzug und die fremden, manipulativen Übergriffe adaptiert und auf letztlich eigensinnige Weise in die Logik des verinnerlichten Systems integriert. Darin liegt sowohl eine zeitlose Aktualität als auch – bezogen auf den dargestellten besonderen Fall – eine verstörende Konsequenz. Dass auf Marias Opfer schließlich ein Wunder folgt, mag auf den ersten Blick, als würde die implizite Religionskritik damit relativiert, irritieren, könnte aber auch als schutzsuchende Flucht aus dem Glaubensdilemma sowie vor den Zumutungen ihrer Umwelt verstanden werden.