Dass die beiden Männer, die da für das Promo-Material ausgiebig nebeneinander posen, Brüder sind, lässt sich schwer leugnen. Die gleichen zugekniffenen Augen, der selbe rot-blonde Ton im Haar, beide mit Vollbart. Doch die Pointe der Bilder und zu einem großen Teil auch die von „Mistaken for Strangers“ liegt im Unterschied, der die Herren Berninger zu einem ungleichen Paar stilisiert: Matt ist groß und wirkt ein wenig steif, wie er da im maßgeschneiderten Anzug steht und ein Glas Rotwein in der Hand hält. Immerhin: Er ist Frontmann der angesagten und seit einigen Jahren auch kommerziell erfolgreichen Indie-Rockband „The National“. Der untersetzte Tom hingegen macht einen auf vergnügten Metalhead, greift lieber zur Bierdose und ist seiner ausgeprägten Slacker-Attitüde zum Trotz noch dabei, sein Häppchen Ruhm zu ergattern. Sein Dokumentarfilm „Mistaken for Strangers“ ist dabei sein bisher wohl ambitioniertester und vielversprechendster Versuch.
Auch wenn der einem Song von „The National“ entlehnte Titel und die Werbung zum Film suggeriert, dass man es hier mit einer waschechten Rock-Doku zu tun haben könnte, bleibt die Geschichte von Matt Berningers Band, das Tourleben und die Musik eher Hintergrundrauschen. Weil ihm im Schatten des großen Bruders schon sonst niemand die gewünschte Aufmerksamkeit schenken will, macht sich Regisseur Tom Berninger nämlich einfach selbst zum Star und Hauptdarsteller seines eigenen Films. In der US-amerikanischen Kritik wurde dabei wiederholt auf die Parallelen von „Mistaken for Strangers“ zu den Komödien Judd Apatows oder denen mit „Hangover“-Star Zach Galifianakis hingewiesen. Ganz abwegig sind solche Gedanken nicht, inszeniert Berninger sich doch als etwas übermütiges und verspieltes Kind im Mann. Voller Neid und Trotz, aber auch mit ein wenig Bewunderung blickt er auf das Leben des gefeierten Bruders, selbst wenn er diesen genau wie seine Musik eigentlich ein bisschen lahm findet. Als Matt ihn fragt, ob Tom als Roadie die anstehende „The-National“-Tour rund um die Welt begleiten will, sagt der kleine Bruder trotzdem nicht nein – vielleicht auch bloß, weil die Alternative wäre, mit 30 noch zu Hause bei den Eltern in Cincinnati zu wohnen und dort mit Kumpels kleine Trashfilme über Amok laufende Ungeheuer und ihre Identitätskrisen zu drehen.
Es kommt, wie es kommen muss: Mitten während der Tournee und gut nach der Hälfte des Films fliegt Tom raus aus dem hochprofessionellen Bandzirkus, weil er lieber mit der Kamera umherstreift und alberne Interviews führt, als sich um Handtücher und Wasserflaschen für die Musiker zu kümmern. Zurück in Cincinnati bleibt dem Regisseur mangels abhanden gekommener Rockband also nicht anderes übrig, als sich weiterhin ausgiebig mit sich selbst und seinen Neurosen zu beschäftigen. Papa und Mama Berninger werden zur gar nicht so lange zurückliegenden und teils noch andauernden Kindheit befragt und die Lebenskrise wird immer präsenter. Schließlich ist es wieder die Initiative von Matt, dank der Toms Dokumentarfilm nicht völlig stagniert und sich in eine lange Reihe von unvollendeten Projekten einreihen muss. In Matts New Yorker Wohnung und mit der Hilfe seiner Ehefrau, der Literaturredakteurin Carin Besser, gelingt sie also doch noch, die Fertigstellung von „Mistaken for Strangers“. Nicht zuletzt vielleicht, weil Tom einen Ratschlag seines großen Bruders beherzigt, der auch „The National“ zum Erfolg geführt haben soll: nämlich in der Kunst die eigenen Misserfolge, Ängste und Sorgen produktiv zu machen und zu verwerten.
Und im Ansatz funktioniert diese Masche auch für „Mistaken for Strangers“ ganz gut. Der Film hat seine Momente, bewegende, lustige und entlarvende. Etwa wenn er dem Erfolgsmodell Indie-Melancholie alle Underdog-Allüren austreibt und stattdessen das Schlürfen von Rotwein, die bühnenreife Depression und den getimten Zusammenbruch nicht als Widerspruch oder Alternative, sondern als konsequente Fortführung eines karriereorientierten Goldjungen-Daseins versteht – ein Auftritt im Wahlkampf von Barack Obama inbegriffen. Dass Tom Berninger seinem Bruder dabei aber letztlich nur unreflektiert (und in der letzten Szene auch wortwörtlich) nachhechelt, raubt „Mistaken for Strangers“ ein ums andere Mal das subversive Potenzial und lässt die Brüder in ihrer Rolle als ungleiches Paar rasch als einen Marketing-Gag erscheinen.
Die Schärfen, Spitzen und Rücksichtslosigkeiten, die sich sowohl bei Apatow wie auch in den Figuren Galifianakis immer wieder Bahn brechen, bleiben bei Berninger auf dem Niveau eines kindischen Rumgenörgels, das sich mit etwas Zucker leicht besänftigen lässt. Laut einem Statement im Presseheft sieht der Regisseur den Erfolg von „The National“ und das Drehen seines Dokumentarfilms dann auch vor allem als eine Lektion in Sachen Hartnäckigkeit, Leidenschaft und Geduld. Ärgerlicher als diese dusselige Tugendhaftigkeit ist allerdings, dass die dramaturgischen Entscheidungen Berningers kaum Raum lassen, in „Mistaken for Strangers“ etwas anderes zu sehen als die konventionelle Zähmung eines Widerspenstigen , der ja eigentlich nie widerspenstig war.