'Ich bin ein böser Mensch', hatte Joe im ersten Teil erklärt, in Lars von Triers 'Nymphomaniac II' hören wir mehr von den Erweckungserlebnissen der Sexsüchtigen und erfahren, wie es zu dieser harten Selbstdiagnose kommt. Die Beichte nimmt ein jähes Ende, weder Rettung noch Erlösung sind zu erwarten.
Joe beichtet Seligman weiterhin ihre sexgetränkte Lebensgeschichte, während der belesene Junggeselle wie im ersten Teil mit bildungsgesättigten Vergleichen aufwartet. Wir hören mit an, wie die Sexsüchtige bewusste Reiz- und Reaktionssteigerungen ihres Begehrens durchläuft. Im ersten Teil geht es noch um eine Tüte Schokodrops als Belohnung der Männerjagd, und obwohl Joe Männer unglücklich macht und Ehen zerstört, wirken die Sexeskapaden vergleichsweise unschuldig und spielerisch. In der Fortsetzung wird Joe von ihrer Sexsucht immer weiter an den eigenen psychischen Abgrund von Egoismus und Selbsthass geführt. Ein „Gefühl“ ist verloren gegangen, die blanke Einsamkeit ist der stille Herrscher in ihrem Kopf.
Eine Schlüsselszene steht am Anfang des zweiten Teils. Joe erlebt mit zwölf Jahren einen Orgasmus in der Natur, in dessen Schwebezustand ihr zwei Frauenfiguren (Promiskuität und Hurenhaftigkeit symbolisierend) erscheinen. Ihre sexuellen Kontakte verbinden sich ab hier definitiv mit überwältigenden Schuldphantasien. Beichtvater Seligman sagt im ersten Teil „Wenn man Flügel hat – warum dann nicht fliegen“ und versucht Joe die Schuldgefühle zu nehmen. Doch Lars von Trier hat anderes mit ihr vor. Der Regisseur stürzt sie immer weiter in die selbstzerstörerische Verzweiflung hinein, lässt sie zwischen fehlgeschlagenen Therapien, Masochismus und weiteren Sexexzessen zu Grunde gehen und führt im allegorischen Setting der Beichte auf düstere Art zu Ende, was er begonnen hat. Wenn jemand Flügel hat – warum ihn nicht abstürzen lassen?
Lars von Trier zwingt den Zuschauer in all seinen Filmen, genau und lange auf das zu Geschehen zu blicken. Er fordert dieselbe Rücksichtslosigkeit des Blicks ein, mit der er selbst die Hoffnung einer reinigenden Wirkung verbindet, als könne die reine Gründlichkeit und Strenge der Beobachtung die Welt von Sentimentalitäten und Illusionen befreien. Die Reinigung ist keine katholische oder moralische, sondern eine des Verstandes.
Kunst, Pornographie, Schrott, Meisterwerk – auch der zweite Teil von Nymphomaniac wird die Gemüter erhitzen. Am Brandbeschleuniger Sex kann es nicht liegen: Trotz der Fülle an therapiewürdigen Haltungen zum Sex und trotz der Explizitheit der Körperlichkeit wirken die Sexszenen filmisch gesehen seltsam wirkungslos. Allein durch die effektvolle Aneinanderreihung überträgt sich hier der Rausch und lässt Assoziationen beim Zuschauer sprießen (wahlweise nach oben oder nach unten, bei manchen sogar nach rechts oder links). Ein Hinweis darauf, dass Lars von Triers Film mehr von den Assoziationen lebt, die er auslöst, als von den eigenen Bildern, Figuren oder Geschichten.
Lars von Trier geht es dabei nicht einfach darum, Lust und Begehren mit Schuld und Strafe zu konnotieren – so wie es seine Protagonistin Joe gerne hätte. Die Rede vom katholischen Zuchtmeister ist nicht nachvollziehbar. Eher sucht Lars von Trier eine Form von Selbstdezentralisierung, in der radikalen Abkehr von allem, was die Realität mit Sinn und Bedeutung überhöht. Nicht das Begehren eines Menschen ist sein schlimmstes Gefängnis, sondern die falschen Vorstellungen davon. Dass es trotzdem keine Rettung aus den selbsterzeugten Käfigen gibt, ist bei Lars von Trier auch keine Überraschung mehr.