„Die Nymphomanin und die Jungfrau“ wäre ein passender Untertitel für den zweiten Teil von Lars von Triers pornografisch offenem Großwerk „Nymph()maniac“, das in diesem Frühjahr in vielen Formaten (je nach nationaler Befindlichkeit) und ganz unterschiedlichen Tonalitäten (je nach Erzählmodus) weltweit in die Kinos kommt. In Deutschland muss man sich mit der insgesamt vierstündigen Version (zwei Filme á zwei Stunden) begnügen, die der Regisseur, so ist am Anfang von „Nymph()maniac Vol. 1“ zu lesen, allerdings nicht autorisiert haben will. Man darf sich sicher sein, dass auch diese öffentliche Äußerung – genauso wie die zu Werbezwecken angeheizten Spekulationen um echte Sexszenen und Genitalprothesen – nicht mehr als eine Nebelkerze ist, die von Trier als Ablenkungsmanöver gezündet hat.
Nach dem ersten Teil, der seit Februar in den Kinos läuft, hat sich der Rauch nun gelichtet. Zum Vorschein kam ein für von Triers Verhältnisse erstaunlich gemäßigter Film (insofern man den Anblick von steil in die Kamera erigierten Schwänzen und Blow-Jobs in Nahaufnahme nicht schon als Provokation empfindet), der sich darüber hinaus dem gesellschaftlichen Diskursschauplatz „Pornografie“ mit einer selten gewordenen Haltung nähert: Humor. Schon der Vorgänger „Melancholia“ war ja eine verkappte Komödie über menschliche (Un-)Sitten und spätkapitalistische Einsamkeit. Mit komischen Abschweifungen verschafft sich von Trier in „Nymph()maniac“ immer wieder Distanz zu seinen Bildern und distanziert sich damit auch von moralischen Standpunkten. Es ist vielmehr die weibliche Hauptfigur Joe, gespielt von Charlotte Gainsbourg, die das moralische Urteil über ihre Biografie längst gefällt hat: „Ich bin ein schlechter Mensch.“
Diesem Werturteil setzt von Trier eine nicht immer ganz ernst gemeinte und im Verlauf des Films von Joe selbst wiederholt desavouierte Lesart entgegen: den Rationalismus des verknöcherten Intellektuellen, der zudem auf den lächerlichen Namen Seligman hört. Von Trier unterläuft mit solchen relativierenden Manövern permanent sein eigenes Erzählkonstrukt. Stellan Skarsgard spielt dieses molchartige Wesen, das ein Leben in der Dunkelheit seiner Privatbibliothek führt, als allwissenden Kommentator, der die Selbstbezichtigungen der geprügelten und achtlos in einem Hinterhof zurückgelassenen Frau mit wenig alltagstauglichen Metaphern aus der Harmonielehre, der Kunst des Fliegenfischens und der Mathematik zu relativieren versucht.
Seligmann erweist sich aber auch in anderer Hinsicht als ein Mensch, wie Joe noch keinem zuvor begegnet ist: Er ist asexuell und damit unfähig, die kurzen, geilen Episoden aus dem Leben dieser modernen Scheherazade (Joe erzählt ihre 1001 Geschichten in einer einzigen Nacht) in etwas anderes als reizlose Analogien zu übersetzen. Joe ist in der schwärzesten Stunde ihres Lebens dem perfekten Mann begegnet. In der Gegenwart von Seligman, dem geduldigen und verständnisvollen Zuhörer, kann sie ihre frivolen Begehren noch einmal in lustvoll ausgeschmückten Rückblenden ausleben, ohne sich in körperliche Abhängigkeiten zu begeben.
Die pornografischen Bilder, die von Trier zur Illustration von Joes Sexbiografie abruft, sind allerdings kein Überschuss dieser Erzählung, sondern ihre Essenz – womit die um gut eine Stunde kürzere Version von Triers ursprüngliche Intention ad absurdum führt. Denn Joes Lust-Prinzip, um das sich die acht Kapitel von „Nymph()maniac“ drehen, will eben nicht bloß analysiert, verstanden (beziehungsweise missverstanden) und kategorisiert werden. Es soll unbedingt auch erfahrbar werden. Die Zuschauer treten gewissermaßen in eine Dreiecksbeziehung mit den beiden Protagonisten, sie nehmen – anstelle des für sexuelle Reize unempfänglichen Seligman – die Rolle des Voyeurs ein.
Von Trier wiederum unterläuft die Blicklogik des Pornofilms, indem er seine Darsteller mit Sexprothesen agieren lässt, was auch als erzählerischer Verfremdungseffekt zu verstehen ist. So entkoppelt von Trier in „Nymph()maniac“ die Pornografie von ihrer reinen Waren- und Körperökonomie und transformiert sie in eine gewaltige Erzählmaschine. Denn im Grunde produzieren Pornografie und Nymphomanie (eine schöne literarische Verklärung ihres klinischen Pendants, der Sexsucht) lineare Erzählungen, beide basieren auf dem Prinzip der Serialität. Das Ausleben der Begierde wird zur Ersatzhandlung, deren Lustgewinn auf der stetigen Variation eines Reizmusters beruht.
Ähnlich sind auch die beiden Teile von „Nymph()maniac“ strukturiert. Während der erste Film noch spielerisch die Möglichkeiten der sexuellen Emanzipation mit einer jüngeren Joe (gespielt von Stacy Martin) austestete, kippt im zweiten Teil der promiskuitive Lebensentwurf seiner weiblichen Hauptfigur ins Autodestruktive. Martin hat nur noch einen Kurzauftritt, dann übernimmt Gainsbourg auch in den Rückblenden die Rolle Joes. Das Herumvögeln während ihrer Sturm-und-Drang-Jahre und die Ehe mit ihrem einstigen Deflorateur Jerôme (Shia LaBeouf) hat sie in eine Sinn- und Triebkrise gestürzt. Ihr Körper ist zu abgestumpft für Orgasmen, außereheliche Triebbefriedigung (mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Ehemanns) lässt sie in immer aussichtslosere Situationen schlittern.
Sie wendet sich an einem professionellen SM-Praktiker (Jamie Bell) und sucht Sex mit „gefährlichen Männern“ von der Straße: afrikanischen Migranten, die Joe mit Hilfe eines Dolmetschers in ein Hotelzimmer lockt und dort dann prompt in einen Streit darüber verfallen, wer von ihnen welches Loch der Frau – wie Joe es formuliert – füllen darf. Die Absurdität der Einstellung – Gainsbourgs gelangweiltes Gesicht eingepfercht zwischen den sichtlich erregten Männerkörpern – unterläuft den inhärenten Rassismus dieser Sexfantasie.
Von Trier erweist sich mit „Nymph()maniac“ als durchaus lernfähig. War „Antichrist“, der erste Teil seiner Depressions-Trilogie, noch durchzogen von misogynen Motiven und sexistischen Projektionen, ist „Nymph()maniac“ sein (krudes) feministisches Manifest. Denn der Begriff Nymphomanie beinhaltet eine Programmatik. Ähnlich wie die Melancholie in von Triers letztem Film ist er nicht nur als literarische Referenz zu verstehen, sondern auch als eine Form semantischer Aneignung – und damit eine Absage an die normativen Kategorien der Medizin/Gesellschaft. „Ich liebe meine Fotze und meine schmutzige, verkommene Lust!“ proklamiert Joe im zweiten Teil vor einer entsetzten Therapiegruppe. Kontrollverlust als Emanzipationsstrategie. Die Schweine hingegen – und man darf nach der Schlusspointe von „Nymph()maniac“ davon ausgehen, dass sich von Trier hier nicht ausnimmt – sind immer die Männer.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: KONKRET 04/2014