Nackt, gebeugt, blutigen Schrittes schleppt sich der kastrierte Patriarch davon. Er verlässt den Kreis seiner Peiniger, die wenige Minuten zuvor noch seine Untergebenen waren, seine Opfer. Die beiden Einstellungen, die sein Ableben zeigen, gehören ganz und gar ihm. In der ersten, recht langen, verfolgt die Kamera seinen Weg zu einer Mauer. Er hebt eine Pistole vom Boden auf. Die Streicher auf der Tonspur spielen ihm ein Requiem. An der Mauer angelangt, steckt er sich den Lauf in den Mund. In der zweiten Einstellung, kaum eine Sekunde lang, drückt er ab, Blut und Hirn spritzen gegen die Steine.
Eine Szene aus „El topo“ von 1970. Im Frühwerk des Regisseurs, um das es hier gehen soll, ist Alejandro Jodorowskys zweiter und wohl bekanntester Film der, der am ehesten einer Narration folgt, am ehesten ein Genrefilm ist – zumindest rein äußerlich. Landschaft und Kostüme gemahnen an einen Italo-Western, der jedoch von der ersten Einstellung an ins Abstrus-Bizarre überzeichnet wird. Nur ist mit diesen Kategorien, wie mit allen anderen, kaum etwas gesagt über „El topo“, über Jodorowsky. Vielmehr zeigt schon die oben beschriebene Szene, wie sehr sich dieser Filmemacher den Kategorien widersetzt, wie sehr gar sein Werk sie zersetzt. Der böse Patriarch, der unerbittlich und grausam über seine Untertanen herrscht, ist eine stereotype Figur im Western – im italienischen mehr als im amerikanischen. In der Aufgabe, ihn zur Strecke zu bringen verbindet sich für die Protagonisten oft der Wunsch nach Rache mit einer klassenkämpferischen Agenda. Ist der Despot tot, ist der Film vorbei. Für El topo aber, den Reiter in schwarzem Leder, mit schwarzem Hut und Vollbart, der in den ersten Szenen seinem eigenen siebenjährigen nackten Sohn das Töten beibringt und ihn später wegen einer Frau alleine zurücklässt, ist durch den Tod der bösen Vaterfigur nichts gelöst. So sehr sich der Film auch an Blut und Grausamkeit weidet, die Gewalt hat keine kathartische Funktion.
El topos Reise fängt mit dieser Szene gerade erst an. In der Wüste wird er die vier Meister zum Duell fordern. Durch gemeine List wird er diese ihm eigentlich weit überlegenen Gegner besiegen. Er wird seine kleinwüchsige Frau treffen. Mit ihr in einer Westernstadt, die den Ausgestoßenen das Paradies verspricht und die Hölle ist, als pantomimischer Clown auftreten. Eine Gruppe von Krüppeln gegen die grausamen barbarischen Stadtbewohner anführen. Er wird scheitern. Wird, wenn er sich am Ende mit Benzin überschüttet und anzündet, der vergeblich nach Erlösung und Erleuchtung suchende und scheiternde Erlöser gewesen sein. In einer bizarren Wüstenwelt, die keine Erlösung mehr kennt.
Schon das Gedicht im Vorspann fasst sein Scheitern zusammen: „Der Maulwurf (span. el topo) ist ein Tier, das unterirdische Gänge gräbt, auf der Suche nach der Sonne. Manchmal führt ihn sein Weg an die Oberfläche. Wenn er die Sonne erblickt, erblindet er.“
Im Indizierungsbeschluss der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (heute: „- Medien“) wird „El topo“ so beschrieben: „Der Film besteht aus einer Aneinanderreihung von Brutalitäten grausamster Art. Damit nicht genug, es werden neben unzähligen Morden, Blasphemie, Menschenverachtung, Frauendiskriminierung, Rassenhaß und Pornographie in variierender Art dargestellt.“
Bei allem Unwillen, sich mit dem Film auseinanderzusetzen und allen dreisten Unterstellungen (wo gibt es in „El topo“ denn bitte „Pornographie“ oder „Rassenhass“?), haben die deutschen „Jugendschützer“ eines gut erkannt: Um sich Alejandro Jodorowsky und seinem (filmischen) Schaffen zu nähern, bieten sich Aufzählungen tatsächlich mehr an als (Nach-)Erzählungen.
Nach den US-amerikanischen Filmkritikern James Hoberman und Jonathan Rosenbaum ist Jodorowsky „Theaterregisseur, Comic-Künstler, Kunst-Provo, Profi-Avantgardist, Guru, Mime und „Macher von El topo““ Hinzufügen könnte man u.A. noch, dass er Romane, Gedichte und Musik schrieb, Tarot-Karten legte und Begründer einer eigenen Therapie-Form ist: der Psychomagie.
Seine frühen Filme, „Fando y Lis“ (1968), „El topo“ und „The Holy Mountain“ (1973), sind psychedelische, blutrünstige, faszinierende, abstoßende, verblüffende, bizarre und bunte Bilderbögen voller Gewalt, Sex, Symbolismus und Sinnsuche. In ihnen verbinden sich Elemente aus sämtlichen Weltreligionen, der Mystik, der Philosophie, der Psychoanalyse, dem Marxismus und der Filmgeschichte. Jesus trifft auf Nietzsche. Buddha auf Salvador Dalí. Luis Buñuel auf Sergio Leone. Die Art, wie aus diesem Anspielungsreichtum etwas ungemein Groteskes, sehr Eigenes entsteht, soll an einer weiteren Szene aus „El topo“ skizziert werden.
Die Leibwächter des ersten Meisters sind zwei Kleinwüchsige. Der eine, der keine Beine hat, sitzt auf den Schultern des anderen, der keine Arme hat. Gemeinsam sind sie stark, können gehen und schießen. Bei ihrem Kostüm habe sich Jodorowsky, so sagt er selbst, an John Wayne orientiert. Seine Formel dazu lautet: „Zwei Krüppel sind ein John Wayne.“
Ein sonderbares Hybrid-Wesen ist auch El Topo selbst schon seinem Äußeren nach: In die Gestaltung seines Kostüms hat sich Jodorowsky von jüdischen Rabbis, Zorro und Elvis inspirieren lassen. Wem das noch nicht genug ist, der kann den Namen der Titelfigur mit einem berühmten Marx-Zitat in Verbindung bringen, in dem er die Revolution mit einem „alten Maulwurf“ vergleicht, der langsam die staatlichen Institutionen untergräbt.
Alejandro Jodorwosky wurde irgendwann zwischen 1929 und 1931 – so genau möchte er sich da nicht festlegen – in der kleinen chilenischen Hafenstadt Tocopilla geboren. Mit zehn zog seine Familie nach Santiago, von wo ihn sein Lebensweg in den nächsten Jahrzehnten über Barcelona nach Paris führte. Hier stand er der surrealistischen Bewegung nahe; insbesondere hatte Antonin Artaud großen Einfluss auf sein Schaffen, dessen Werk „Le théatre et son double“ Jodorowsky als „seine Bibel“ bezeichnete (Hoberman und Rosenbaum merken sarkastisch an: „die erste, man ahnt es schon, von vielen.“) Schließlich erkor Jodorowsky Mexiko zu seiner Wahlheimat, wo er 1967 seinen ersten Film realisierte: „Fando y Lis“.
Fando und seine gelähmte Freundin Lis machen sich auf den Weg, das sagenumwobene Land Tar zu suchen. Mal trägt er sie auf dem Rücken, mal fährt er sie auf einem Wagen mit einem Grammophon, aus dessen Lautsprechern Kinderlieder die Schönheit einer Beerdigung besingen (In einem anderen der gesungenen Verse, die den Film leitmotivisch durchziehen, heißt es: „Ich werde sterben und niemand wird sich an mich erinnern.“) Tatsächlich scheint der Film eher durch motivische Verknüpfungen um die Themen Sterben und Tod zusammengehalten werden, als durch das Reise-Narrativ, das sich auch in den folgenden Filmen wieder finden wird. Alles in „Fando y Lis“ kündet vom Verfall. Die Schauplätze, von der Montage so zusammengefügt, dass nirgendwo das Gefühl aufkommt, die beiden Protagonisten würden irgendwie vorankommen, sind eine Stadt in Ruinen, ein Schrottplatz, Friedhöfe, ein Steinbruch. Wie ein Steinbruch wirkt auch der Film selbst. Eine mehr oder wenige lose Abfolge surrealer, bizarrer, symbolisch aufgeladener, immer wieder ziemlich grausamer Szenen. Auf ihrem Weg begegnen sie unter anderem elegant gekleideten Menschen, die zwischen Ruinen Saxophon spielen, plaudern und trinken, einigen alten weißhaarigen Frauen, die um Dosenpfirsiche pokern und zwischendurch junge muskulöse Männer küssen, einem Arzt, der Lis Blut abnimmt, um es anschließend zu trinken und einer Gruppe exaltierter Transvestiten. Tar finden sie nicht. Am Ende erschlägt Fando Lis in einem Wutanfall. In einer sonderbaren Begräbniszeremonie verspeist die Trauergemeinde Teile ihres Körpers. Dann trägt Fando ihren Leichnam in einer recht eindeutigen Parodie des Kreuzweges Jesu‘ davon.
Mit diesem Film, in dessen schwarzweißer Albtraum-Ästhetik sich die bunte Bildgewalt seiner Nachfolger schon deutlich abzeichnet, etabliert sich Jodorowsky auch im Kino als das, was er schon in seiner vorangegangenen Theaterkarriere war: ein Meister der Grenzüberschreitung. (In seinen Theateraufführungen bezog sich dies wohl schon auf die Grenze zwischen Bühne und Zuschauer: unentwegt flogen Tierkadaver und andere Dinge ins Publikum.) Schierer narzisstischer Größenwahnsinn und Genie liegen hier nicht nur dicht beieinander, sie gehen fließend ineinander über.
Im Hinblick auf „El topo“ sprachen die Prüfer der Filmbewertungsstelle der BRD von einer „Ästhetisierung des Widerwärtigen“. Was als vernichtende Kritik gemeint ist, ist sicherlich gar nicht so weit entfernt von Jodorowskys künstlerischem Selbstverständnis. Dass ihm diese Ästhetisierung gelingt, macht ihn schon in seinem Film-Debüt zu mehr als dem bloßen Provokateur, den seine Kritiker gerne in ihm sehen. Man kann sich „Fando y Lis“ als einen schönen Film vorstellen.
Ein kommerzieller Erfolg war dieses Debüt nicht. Der Film wurde in Mexiko verboten, in New York lief er nur in einer stark gekürzten Version. Dennoch erregte Jodorowsky genug Aufsehen, um wenig später „El topo“ drehen zu können. Er sparte sich den Versuch, diesen Film in Mexiko zu veröffentlichen, und ging mit ihm nach New York. Hier entwickelte er sich in Spätvorstellungen zu einem Kultfilm, dem ersten midnight movie. So sah den Film auch John Lennon, der begeistert war und Jodorowsky an seinen Manager Allen Klein verwies, der daraufhin dessen dritten Film produzierte.
„The Holy Mountain“ ist Jodorowskys vielleicht beeindruckendster Film, der, auf den Thomas Grohs Worte am meisten zutreffen, der Jodorowsky als „Schutzheilige(n) all jener“ bezeichnete, „die statt Drogen zu nehmen ins Kino gehen (oder die mit Vorliebe im Kino Drogen nehmen)“. Dieser knapp zweistündige Dauerexzess ist zugleich auch sein streitbarster Film. Unter anderem, weil der Regisseur hier seine ekstatischen, ausufernden, mit Ideen und Symbolen überfrachteten Bild- und Klangwelten am deutlichsten in den Dienst einer eher plumpen Kritik an Christentum und Kapitalismus stellt.
Zu Beginn liegt ein Mann, schon hier vage an Jesus gemahnend, betrunken und vollgepisst im Staub. Eine Gruppe von Jungs mit grün bemalten Genitalien trägt ihn davon, hängt ihn an ein Kreuz und als sie beginnen ihn zu steinigen, erwacht er, steigt hinab und vertreibt sie. Zurück bleibt nur ein Kleinwüchsiger, der nicht flüchten konnte, weil er weder Hände noch Beine hat. Sie freunden sich an, teilen sich einen Joint. Sie leben im karnevalesken Grauen einer lateinamerikanischen Militärdiktatur (gedreht wurde erneut in Mexiko), deren Zustände unverkennbar die der Westernstadt aus „El topo“ fortführen und auf die Spitze treiben. In einem Prozessionszug tragen Soldaten mit Gasmasken zahllose gekreuzigte Lämmer durch die Straßen. Die Reichen rutschen dazu gut gekleidet auf den Knien herum. Hinrichtungen werden als großes Spektakel öffentlich veranstaltet, während Touristen aus den Fenstern eines Reisebusses fleißig fotografieren. Als Bettler kommen „Jesus“ und sein kleiner Freund auf den Geschmack des Geldes. Sie arbeiten für einen Zirkus, der die Eroberung Mexikos mit Kröten und Echsen nachstellt. Blut fließt in Sturzbächen über die Attrappen aztekischer Pyramiden, die dann mitsamt erobernden und eroberten Reptilien in die Luft fliegen. In den Trümmern wird das Geld gezählt. In einem Gottesdienst trifft Jesus auf seine Jünger: zwölf Prostituierte, eine davon trägt einen Schimpansen auf dem Rücken.
Der erste Teil des Films behandelt, so Jodorowsky im Audiokommentar, die primitive Welt, er endet damit, dass „Jesus“ einen roten Turm erklimmt, von wo ihn ein Gang in die mystische Welt führt. Hier sitzt im psychedelisch regenbogenfarbenen und -förmigen Dekor, zwischen einem Dromedar und einer tätowierten schwarzen Frau, die außer ihrem bizarren stählernen Körperschmuck nackt ist, ein alchemistischer Meister (gespielt, wie könnte es anders sein, von Alejandro Jodorowsky). Nachdem dieser gezeigt hat, wie man aus der Scheiße „Christi‘“ Gold kocht und Tarot-Karten legt, führt er ihm die neun mächtigsten Männer und Frauen der Welt vor, von denen jeder für einen Planeten des Sonnensystems steht: ein Industrieller, die Direktorin einer Rüstungsfirma, ein Multimillionär, ein Polizeichef usw. Die Szenen, in denen sie sich kurz vorstellen und durch ihre Welt führen, sind ein eigener kleiner Film-im-Film. Eine burleske Parade der Machtverhältnisse, der die Skurilitäten aus allen Poren quellen („auditives Kokain“, mit dem Arsch gemalte Bilder, mit der Hand sexuell befriedigte menschliche Skulpturen oder der greise Unternehmer, der Entscheidungen trifft, indem er seiner mumifizierten Frau in den Schritt greift (feucht: ja, trocken: nein) sind nur einige davon).
Sie alle machen sich nun auf den Weg, den heiligen Berg zu finden, der Unsterblichkeit verspricht. In der letzten halben Stunde verabschiedet sich der Film von seinen skurrilen Interieurs, um nun ganz unter freiem Himmel zu spielen. Auf dem offenen Meer, in subtropischer Landschaft, in den Bergen. Er wird zu einem „Abenteuerfilm“ (verlassene Pyramiden und Blockflötenklänge inklusive) so, wie „El topo“ ein „Western“ war.
Am Ende der Reise wartet jedoch nicht die Unsterblichkeit, sondern die Realität. Umringt von der Schar der Suchenden sitzt der Alchemist und Regisseur. Er befiehlt der Kamera zurück zu zoomen, sie tut es, das Filmteam wird sichtbar. „We must break the illusion,“ verkündet der Meister: „Goodbye holy mountain. Real life awaits us.“
Für Jodorowsky-Skeptiker wie Hoberman und Rosenbaum ist dieser Schluss ein gefundenes Fressen. Sie schreiben: „Nach rund hundert Jahren künstlerischer Moderne wirkt diese Szene nur mehr abgedroschen.“ Aber auch der Filmhistoriker Claus Löser, der das Essay im Booklet der vorliegenden DVD-Edition verfasste, das mit den Worten beginnt: „Alejandro Jodorowsky mutet bisweilen wie eine Renaissancefigur an, wie ein Universalgenie, das sich im Zeitalter verirrt hat,“ gibt zu: „Das desillusionierende Ende des Films nimmt man ihm nicht ganz ab. Dass er das ganze Brimborium nur in Szene gesetzt haben sollte, um es zuletzt mit einer launischen Handbewegung zu verwerfen, wirkt überstürzt und etwas unorganisch.“ Jedoch: Es ist eine Szene, die den ganzen vorherigen Film, wenn nicht gar das ganze vorherige filmische Schaffen des Regisseurs über den Haufen wirft, und zwar auf eine Art, die selbst seine Verehrer etwas ratlos zurücklässt. Für einen großen Provokationskünstler und, in seinen eigenen Worten, „Anarcho-Mystiker“, ist das doch eigentlich eine Auszeichnung.
Die drei Filme liegen nun bei Bildstörung in einer Box auf DVD und Blu-ray vor. Das Kölner Label hat sich wie kein anderes in Deutschland darum verdient gemacht, Klassiker des abseitigen, sonderbaren und transgressiven Films auf makellosen Veröffentlichungen neu zugänglich zu machen. Kurz gesagt: Bildstörung veröffentlicht Filme, die fast jedes andere Label links liegen lässt, auf DVDs, für die der geneigte Sammler fast alle anderen inländischen Veröffentlichungen links liegen lässt. Auch die Jodorowsky-Box ist wieder eine regelrechte Studienausgabe. Neben den Filmen gibt es eine Bonus-DVD auf der sich unter anderem eine abendfüllende Dokumentation befindet, Soundtrack-CDs zu „El topo“ und „The Holy Mountain“, sowie gleich zwei Booklets mit einem Essay von Claus Löser und einem sehr ausführlichen Interview mit dem Regisseur. Ganz besonders sei noch auf die Audiokommentare von Jodorowsky zu allen drei Filmen hingewiesen. Sie liefern nicht nur den endgültigen Beweis, wie dicht Genie und Wahnsinn (aber auch Un- und Irrsinn) beieinander liegen, sondern geben auch Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Filme, die einen Mann zeigen, der keine Hemmungen hat, andere und sich selbst für seine Auffassung von Kunst zu quälen. Einen unerbittlichen Künstler eben.