2013 stellte Milo Rauch in seiner 'Kritik der postmodernen Vernunft' Lenins hundert Jahre alte Frage aufs Neue: Was tun? (Kein & Aber). Im selben Jahr tat er etwas, was noch keiner tat, jedenfalls in Russland nicht. Er versammelte in einer Moskauer Galerie (Sacharow-Zentrum) sehr reale Protagonisten von sehr realen Schauprozessen der letzten Jahre – gegen Pussy Riot, gegen die Kuratoren von „Vorsicht! Religion“ und „Verbotene Kunst“, holte Statements von Experten ein und ließ sie reden, unkommentiert. In dieser politischen Installation waren keine Schauspieler dabei. Zum ersten Mal können wir mitdenken und selbst denken, wenn wir die Argumente der Prozessparteien hören. Patriarch und Staat auf der einen Seite, Kunst und Künstler auf der anderen. Beide in einem Dialog, wie er in Russland unbekannt ist. Das Ergebnis, das heißt, die Entscheidung der Geschworenen in dieser politischen Installation, ist offen.
Der Prozess wird unterbrochen. Die Einwanderungsbehörde greift ein: Ihren Pass, Herr Rau! Was machen Sie hier eigentlich? – Ja, wir sind wirklich nicht im Theater. Ich sehe eine Dokumentation. – Nach Stunden geht es weiter. Allerdings kommen jetzt Kosaken in Uniform und wollen was wissen. Attacke eines Ausländers gegen den russischen Staat? Auch das wird dokumentiert. Was geschieht jetzt? Jetzt entschließen sich russische Fernsehsender und Zeitungen doch über ein Event zu berichten, das der russischen Öffentlichkeit zuvor vorenthalten war.
Wir erfahren Näheres von der „orthodoxen Kampfsport-Vereinigung“, die aus der faschistischen „Volkszorn“-Bewegung hervorgegangen ist („Alle Juden gehören an den Galgen!“). Von der traditionellen Einheit von Kirche und Staat, wie uns ein Sachverständiger erklärt. Von der bösen Macht des Liberalismus, „der uns zerstören will“ (Kirchen-Vertreter).
Die ungestellte, durchaus heftige und extreme Rede und Gegenrede in Raus Installation könnte, positiv gewendet, als Start eines Dialogs zwischen Künstlern und Kirchenleuten funktionieren, jedenfalls in einer Installation wie dieser. Bloß er selbst wird in Moskau nicht mehr tätig werden können. Ihm ist die Einreise verboten worden.
Zu lesen sind die Protokolle des Films in Raus Buch Die Zürcher Prozesse/Die Moskauer Prozesse', das am 31. März im Verbrecher Verlag erscheint.
Diese Kritik ist zuerst erschienen in: KONKRET 3/2014