Beinahe von Anfang an hat sich das Zyklische, genauer: die Trilogie als äußere Form der Verklammerung thematisch verwandter Filme im Schaffen Lars von Triers herausgebildet: „Europa“, „Golden Heart“ und „USA“ heißen die Sujets der – manchmal unvollständigen, oft unterbrochenen – Dreiergruppen, die von „The Element of Crime“ (1984) bis „Manderlay“ (2005) einen Werkkatalog unterteilen, dessen Urheber selbst gerne mit der manisch-unbalancierten Phasenhaftigkeit seiner Existenz kokettiert. Mit „Nymph()maniac“ stellt man nun fest, dass auch „Antichrist“ (2009) und „Melancholia“ (2011) ihren Drilling gesucht und bekommen haben. Sie fügen sich – äußerlich zusammengehalten von der großen Schmerzensfrau Charlotte Gainsbourg – zu einer Trilogie der Psychopathologien, das heißt vor allem der Depressionen zusammen. Hatte Trier bislang von deren scheiternden Gegengiften („Antichrist“) und ästhetischen Sublimierungen („Melancholia“) gehandelt, so greift er nun mit „Nymph()maniac“ zunächst erneut auf die Selbstpeinigungen der katholischen Seele zurück, die einige seiner Filme in den 1990er-Jahren geprägt hatten. Auch bei Trier will diese unsterbliche Seele die ihr angedichtete Superiorität gegen einen aufdringlichen Leib verteidigen, der sich zwar ungeniert an den milchspritzenden Brüsten der Gottesmutter mystisch verzücken darf, ansonsten aber in Sack und Asche gehen soll. Der große Wurf allerdings, den der neue Film wagt und vollauf gewinnt, ist – so zumindest präsentiert es sich nach dem ersten der beiden Teile – die Verschaltung dieses Sünden-/Buße-/Exerzitien-Diskurses mit den Rationalisierungsentwürfen der europäischen Aufklärung. Hier knüpft „Nymph()maniac“ auf den ersten Blick direkt an seine Vorgänger an. Doch wo dort die Grenzen moderner Kurierungsvorhaben ausgestellt („Antichrist“) oder die „schöne“ Depression selber als Therapeutikum der letzten, nämlich der Todesangst herangezogen wurde („Melancholia“), gehen hier der religiöse Sündenfall und die kühl herleitende Ätiologie einer psychischen Kondition das oftmals ausgesprochen vergnügliche Spiel des Sich-gegenseitig-ins-Wort-Fallens ein.
Die beiden Seiten dieses Versuchs, der von Anfang an den Film in Gestalt einer Rahmenerzählung in distanzierende Klammern setzt, sind Joe (Charlotte Gainsbourg), die selbstdiagnostizierte Nymphomanin, und Seligman (Stellan Skarsgård), ein alleinstehender liberal-jüdischer Gelehrter. Seligman liest Joe von der Straße auf, wo sie blutend am Boden liegt, bringt sie in seine Wohnung und versorgt und bettet sie. Väterlich an ihrem Krankenlager sitzend, lässt Seligman sich Joes Geschichte erzählen – kommentiert, sortiert und hinterfragt. Joe hält sich selbst für einen „schlechten Menschen“, der der Sünde verfallen ist, weil sie mit unzähligen Männern geschlafen, ihre Gefühle missbraucht und Leben zerstört und zugleich den eigenen Leib („Mea vulva, mea maxima vulva!“) und dessen Befriedigung zum Maßstab aller Dinge gemacht habe. Seligman, der Therapeut, reagiert unwirsch auf Konzepte wie „Sünde“ oder Wertungen entlang der Schemata „gut“ und „schlecht“. Er sucht stattdessen nach Gründen und literarischen Analogien für Joes unstillbaren Appetit auf jenen harten und schwitzig-kalten Sex, den der Film in Rückblenden in allen denkbaren (…?) Details vorführt. Dabei wird der ungeheuer schmale Körper der „Young Joe“ (Stacy Martin) von den Schlange stehenden Männern jeglicher Altersgruppen, Bildungsschichten und Körpermaße bis zur völligen Erschöpfung beackert, begrabscht, beschlabbert, gedehnt und gespreizt. Immer und überall – auf der Zugtoilette, dem Küchentisch, der Wäschekammer des Krankenhauses, wo einige Stockwerke darüber Joes feinfühliger Vater (Christian Slater) in seinem eigenen Unrat erbarmungswürdig vor sich hinstirbt. Bisweilen wird parallel auf drei Split-Screens leinwandfüllend geleckt, gepackt und gestoßen. Nur: Es ist nie genug. Als Joe mit Jugendfreund Jerôme (Shia LaBeouf) im Bett ist, von dem sie bekommt, was gefürchtet und doch im Sinne der Luststeigerung begehrt ist (nämlich ausgerechnet ein ansonsten unbekanntes Gefühl von Verliebtheit), verlangt sie: „Fill all my holes.“ Er kann es nicht, sie spürt nichts mehr. Das Loch bleibt tief, dunkel und leer.
Die Form von „Nymph()maniac“ vermittelt dabei durchwegs kühn zwischen der Ebene der direkten Involvierung in Joes Leidens- und Lustgeschichte, an deren Gesicht und Körper(öffnungen) die Kamera bisweilen zu kleben scheint wie die gaffenden Männer selbst, und einer virtuos darüber montierten Schicht der Einrückungen und Ironisierungen, die meist durch Seligmans sachliche, aber unnachgiebig neugierige Kommentare initiiert werden. Einmal erzählt Joe von der Zahl der Stöße, die ihr erster Liebhaber beim Sex zu Wege brachte („3+5“). Seligman kann nur hinzufügen: „Those are Fibonacci numbers.“ Deren Folge wird alsdann zur Verdeutlichung ins Bild eingeblendet. Das ist kein Manierismus, sondern Teil einer Doppelstrategie, die Triers Film fährt: Versinnlichung der Wissenschaft und Verwissenschaftlichung der Sinnlichkeit. Der bis zum letzten Hemdknopf abgeschnürte Seligman und „sex addict“ Joe bilden die menschliche Zweifaltigkeit, die nun wie zusammengerauft in der schützenden Behausung einer bürgerlichen Wohnstube aufeinander hockt. Die letzten Endes hoffnungsvolle Dimension dieser Paarung entschlüsselt sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt vollständig, wenn Joe von Seligman lernt, die Typen ihrer Sexualpartner entlang des Bach-Chorals „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ als Bass, Mittelstimme und Cantus firmus zu identifizieren und im Nachhinein neu zu erleben.
Das aber bedeutet nicht, dass Stimulanz in „Nymph()maniac“ im Kopf beginnt oder dort beginnen muss, um „besser“ zu sein. Dafür ist Lars von Trier im Wesentlichen zu sehr ein Gegenaufklärer. Vielmehr muss das, was der Geist dem Leib sublimiert und als Rettung vor dem Nichts anbieten könnte von diesem zuvor erspürt, vorgekaut, geschluckt und wohlmöglich wieder ausgespuckt worden sein: Joe muss weiter erzählen, Seligman verlangt es. Ihre „Seelenrettung“ beginnt in diesem Sinne erst und gerade mit der Totalkalibrierung und Vollauslotung ihrer Leiblichkeit: Wer heil sein will, muss verstehen, sagt der Aufklärer Seligman; wer erlöst sein will, der „Sünde“ tätig das Wasser abgraben, so der Katholik Lars von Trier. Die aber besteht in letzter Instanz – und das wussten selbst Augustinus und Nietzsche gleichermaßen – keineswegs in der Leiblichkeit des Leibes, sondern im Nihilismus. Mit „Nymph()maniac“ arbeitet Lars von Trier weiter beharrlich an dessen Überwindung, bekennt sich dabei aber zugleich mit Nietzsche und indem er den Porno in Kunst, Rammstein in Bach und den Horror in eine Komödie verwandelt zu seiner vorläufigen Gültigkeit. Daraus kündigt sich schon nach „Volume I“ die aberwitzigste Großfilmtat seit langem an: Ein erotoman-nietzscheanisch-katholischer Bildungsroman in allgemeiner Absicht.