Was passiert, wenn Geld zum alleinigen Schmiermittel der Gesellschaft wird, zeigt der neue Film von Jia Zhangke. „A Touch of Sin“ erzählt von einem Land im Vorwärtsmodus und von Menschen, die dabei unters Rad kommen. Chinas Schnellspurt vom Kommunismus zum Turbokapitalismus hält hier nur ein Versprechen bereit: Die Verwandlung des Menschen in ein Raubtier.
Ein Unternehmensboss fliegt im Privatjet zu seinen verarmten Untertanen und lässt sich wie ein Nationalheld feiern. In einem Nobelhotel verkleiden sich Provinzfrauen als Kämpferinnen der Volksbefreiungsarmee, mit Nummern und sexy Outfit, sie stehen Spalier für Geschäftsmänner, deren Reichtum jedes Verhalten legitimiert. Zwei Männer wollen den Sex mit einer Rezeptionistin in einem Saunabordell erzwingen und schlagen auf sie ein, weil jene sich dem ökonomischen Prinzip verweigert – als habe sie deren Ehre beleidigt.
Hörige des Profits lassen das Land ausbluten und treiben zu immer mehr Leistung an. Zentral ist das Motiv des geschundenen Pferdes, das blutig gepeitscht wird, weil es nicht weiterwill. Auch die Hauptfiguren im Film können und wollen nicht mehr. In vier Episoden, die in unterschiedlichen Provinzen Chinas spielen und auf wahren Begebenheiten beruhen, zeigt „A Touch of Sin“, wie sich der Unwille in Gewalt entlädt. Ein Mann läuft Amok gegen den Jetbesitzer und die korrupte Dorfelite, ein Wanderarbeiter stürzt sich mit Parolen des Leistungsdrucks im Ohr vom Balkon einer Arbeitsbaracke, die Rezeptionistin greift zum Messer, ein Mittelloser wird zum raubenden Mörder.
Der Film verdichtet Momente, in denen der gesellschaftliche Druck so hoch wird, dass die Wut im Menschen explodiert. Es folgen Momente brutaler Gewalt als letztes, selbstbestimmtes Mittel gegen die Logik der Ausbeutung und Demütigung. Hier nähert sich der Regisseur für Sekundenbruchteile an die Martial Arts-Ästhetik einer erhabenen Körpervernichtung an. Dann sind wir zurück im sozialen Dilemma. Die blutgetränkte Gewalt lässt weder wiedererlangte Ordnung oder erfüllte Rache im Täter zurück, sondern nur Zerstörung.
Vor den Ausbrüchen begleiten wir die Figuren in ihrem Taumel. Der Kamerastil bringt die Verstörung, die unter der Oberfläche brodelt, bemerkenswert zum Ausdruck: Immer wieder setzt sich die Figur vor der Unschärfe der Umgebung ab, nur um im nächsten Moment selbst in diese hineingezogen zu werden. In Momenten innerer Verzweiflung, kurz vor dem blitzartigen Wutausbruch. Dann geht die Kamera nah heran und schraubt sich um die Perspektivlosen herum, so als könne sie von irgendeiner Seite in das Innenleben der Figuren hineinsehen.
Jia Zhangke zeichnet in „A Touch of Sin“ eine Gesellschaft, die sich im Kampf um Bereicherung weitestgehend von Moralvorstellungen und von ihrem alten Erbe befreit hat. Und es scheint so, als hätte die Geschwindigkeit, mit der China dem Reichtum und dem Profit hinterherjagt, an manchen Stellen ein so großes Loch aufgerissen, dass es nur mit Gewalt und Willkür ausgefüllt werden kann. Irgendetwas ist auf dem Weg verloren gegangen. Symptomatisch steht dafür das Bild des Dorfes, das in gelähmter Andacht beisammen steht, um Bruchstücke ihrer Kultur auf einer Wanderbühne zu betrachten. „A Touch of Sin“ überzeugt durch symbolträchtige, atmosphärische Bilder; choreografiert zwischen beklemmender Sozialdramatik und fiktiver Überhöhung. Die selbstermächtigende Ästhetik hält auch immer wieder überraschende Momente voller Poesie bereit. Nur der – auch hier vorgenommene – Rückschluss auf die gesellschaftliche Relevanz führt zu einem Problem.
Bilder aus China kommen über die mediale Vermittlung zu uns. Derzeit beherrscht das „China im Umbruch“ unser Denken. Berichte über den Wandel füllen Zeitungen und Magazine. „Wer wissen will, was in China geschieht, muss sich seine Filme anschauen“ lässt Die Zeit über den Regisseur wissen. Jedes (kulturelle) Produkt aus China wird derzeit zum Gradmesser der chinesischen Lage. Der Film wird hierzulande dann auch als faszinierendes Werk gefeiert, das einen Einblick in Chinas Innenleben bietet.
Dass der Film an vielen Stellen plakativ wirkt, das Geschehen in Nebensträngen erzählerisch auseinanderfällt oder die Dialoge nur für den Zuschauer abgespult werden, sind filmische Schwächen, die man dabei gerne ausblendet. Vielleicht ist diese Kritik an der Rezeption des Films einer unzulässigen europäischen Sichtweise auf den Film geschuldet. Eine politisch aufgeladene Beweihräucherung, die den Film als Vermessung des modernen Chinas lobt, ohne sich wirklich mit den behandelten Themen auseinandersetzen zu können, wäre dann aber ebenso fragwürdig.
Zumindest müsste sie sich die Frage gefallen lassen, ob hier nicht vielmehr die Unmöglichkeit, sich mit der politischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, kompensiert wird. Auch wenn Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der gesellschaftlichen Landschaft durch das Fernrohr der medialen Vermittlung legitim und notwendig sind, so ist diese Lesart der chinesischen Kulturerzeugung vor allem eines: Der Hinweis auf unser Bedürfnis, mehr vom unbekannten Riesen im Osten zu erfahren.
Eine weitere Kritik zu 'A Touch of Sin' gibt es hier: Link