Inspiriert vom Bebop Charlie Parkers spielt Charlie Mariano, Sohn italienischer Einwanderer, ab 1941 live in den Bands von Johnny Hodges, Nat Pierce oder Quincy Jones. Mitte der 1950er Jahre wird Mariano Mitglied in der Big Band von Stan Kenton und gehört fest zum Kreis um Shelley Manne. Mariano lehrt nun selbst an der Berkeley School of Music, wo er einst selbst von Joe Viola unterrichtet worden war. 1962/63 kommt es zur Zusammenarbeit mit Charles Mingus für das Album „The Black Saint And The Sinner Lady“. Mingus ist es auch, der den Begriff prägt, der den eigentümlichen, stets lyrisch-melancholischen Sound Marianos prägnant beschreibt: „Tears of Sound“. Im Booklet zum legendären Album macht Mingus Mariano ein großes Kompliment, wenn er schreibt: „No words or example were needed to convey this idea to Charlie Mariano. Only his love of living and knowing life and his understanding of the composer’s desire to have one clear idea at least musically recorded here for record.“ Als „station ID“ für Mariano nennt er später im Text dann noch „SOUL and LOVE“. Große Worte, die allerdings im Zusammenhang mit der Kunst Marianos nicht sonderlich überraschen. Doch welches Kapital ist mit derlei Lob verbunden? Wohl eher symbolisches.
Anfang der 1970er Jahre übersiedelt Mariano nach Europa, weil es ihm hier, anders als in den USA, möglich ist, von seiner Kunst zu leben. Als Weltmusiker avant le lettre lebt er zuvor einige Jahre in Japan und Malaysia und arbeitet am südindischen Karnataka College of Percussion. Mariano bringt neben seinem souveränen und eleganten Auftreten also als Kapital authentisch erlebte Jazz-Geschichte und eine neugierige Weltläufigkeit mit nach Europa, wo er mit Projekten wie Osmosis oder Pork Pie schnell sehr bekannt wird und mit dem United Jazz & Rock Ensemble oder an der Seite Eberhard Webers die Karriere macht, die ihm in den USA wohl verwehrt geblieben wäre.
Soweit der fällige Lexikon-Eintrag. Die betont kunstlose Dokumentation von Axel Engstfeld braucht solche musikalisch-biografischen Stationen nur zu skizzieren, weil einerseits wichtiges Material in den Archive wohl fehlt, andererseits die Ausstrahlung der Persönlichkeit vor der Kamera hinreichend davon erzählt. Seit Mitte der 1990er Jahre war Mariano an Prostatakrebs erkrankt, musste immer mal wieder Konzerte absagen und mit seinem Spiel der Krankheit Tribut zollen.
Der Film hat Mariano 2008/2009 durch seinen Alltag begleitet, zeigt ihn bei Arztbesuchen, aber auch bei Konzerten in kleinen Klubs. Befreundete Musiker wie Mike Herting oder Matthias Schriefl, viele Jahre jünger als Mariano, erzählen, was ihnen die Begegnung mit Mariano bedeutet hat und inwieweit sie von dessen Persönlichkeit künstlerisch und menschlich profitierten. Das geht über das bloß Musikalische weit hinaus, wenn beispielsweise die Musiker bei gemeinsamen Konzerten in einem Akt der Solidarität fraglos auf ihre Gage verzichteten, um Mariano die finanziellen Mittel zu verschaffen, die seine Erkrankung fordert. Dass aber Konzertveranstalter reserviert reagierten, weil die Krankheit unzuverlässig machte. Viele Fäden der künstlerischen Biografie Marianos liefen noch einmal im ausverkauften Stuttgarter Theaterhaus zusammen, wo im November 2008 Marianos 85. Geburtstag mit einem rauschenden Konzertabend voller Höhepunkte gefeiert wurde. Der Film hat Impressionen dieses Abends gesammelt, weshalb viele alte Bekannte wie Ack van Rooyen, Paul Shigihara, Jasper van´t Hof, Philip Catherine, Wolfgang Dauner oder Dieter Ilg zu sehen sind. Der frenetisch gefeierte Abend endete im kleinen Kreis mit einem berührend klaren Blues.
Man kann „Charlie Mariano – Last Visits“ auf zweierlei Weise sehen. Für seine Fans ist der Film ein bittersüßes Fest, das einen unvergessenen Musiker noch einmal zum Leben erweckt und feiert. Mariano selbst sorgt dafür, dass das Ganze keine hohle Nostalgieveranstaltung wird. Der Film dokumentiert aber auch, wie es sich anfühlen mag, wenn man als schwerkranker Künstler ohne Krankenversicherung bis ins hohe Alter auftreten muss, um sich seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Aufgrund seiner einnehmenden Persönlichkeit war es Charlie Mariano geglückt, sich gewissermaßen jenseits des Gesundheitssystem privat zu versichern, weil ihm seine Kunst verlässliche Freundschaften ermöglichte. Ganz zum Schluss, als das Filmteam ihn ein letztes Mal besucht, hat dann der Krebs gesiegt. Vor der Kamera sitzt ein gebrochener Mann, der binnen weniger Monate um Jahre gealtert erscheint: die Auftritte, so Mariano, fehlten ihm schon, aber es gehe einfach nicht mehr. Er werde seine Instrumente wohl verkaufen, um seiner Frau etwas Geld zu beschaffen. Es nötigt großen Respekt ab, dass sowohl Mariano als auch Engstfeld sich und uns dieses Finale nicht ersparen, denn das Elend war in der Jazz-Geschichte, die Charlie Mariano (auch) repräsentierte, leider stets ein zuverlässiger Weggefährte. Solidarität unter Musikern ist eine schöne Geste, aber natürlich kein Ersatz für ein Altern ohne Existenznöte. Nach langer Krankheit ist Charlie Mariano im Alter von 85 Jahren im Juni 2009 verstorben. Seine „Tears of Sound“ sind auf annähernd 500 Tonträgern dokumentiert.