Wer kennt zufällig den Willi aus der Kindersendung „Willi will‘s wissen?“ und wer hat, wie ich, ernsthafte Probleme damit, sich das regressive, permanente Grinsen besagten Willis anzugucken? Warnung: Für Willi-Phobiker ist der Film „Tore tanzt“ schon mal nix, denn titelstiftender Tore hat sich offenbar dieses Grinsen bei Willi bis zur Perfektion abgeguckt, und, das passt schon: da wo Willi (wer nicht fragt, bleibt dumm) natürlich berufsmäßig immer dumm ausschauen muss, weil er auch kindgerecht dumm fragen muss (denn wer alles wissen will, muss immer dumm fragen), da will „es“ auch Tore wissen, man könnte nur sagen, mit einer ziemlich großen Einschränkung, denn er will nur eines wissen: „Welchen Plan hat Gott für mich ausgeheckt?“ Und sonst nichts.
In Sachen Dummheit schlägt Tore nun somit den guten alten Willi, denn er ist so ein mittelalterliches Relikt, das nicht mal selber denken oder fragen oder logisch ableiten kann wie Willi, sondern Zeichen, Wunder und „Böses“ braucht, damit er „Gutes tun“ kann. Tore, so in etwa 18 Jahre, ist ein sogenannter „Jesus-Freak“, Mitglied einer ziemlich ekstatischen und freakigen hamburger Jesus-Punk-Community, und der Film beginnt mit Tores Taufe in einem See, wonach Tore ganz schön ekstatisch guckt. Dann führt der Film ihn mit ein paar Jesus-Kumpels zu einem Rastplatz, wo ein Auto nicht anspringt und er mal so richtig regredierend grinsen darf, weil er nämlich in Ermangelung eines Starterkabels seinen direkten Draht nach oben demonstrieren kann („Bitte Gott, hilf mir diesen Motor zu starten. Wenn‘s nicht klappt, glaub ich trotzdem an dich!“), die Motorhaube küssen und – oh Wunder, oh Wunder: der Motor geht wieder – richtig entrückt und debil ekstatisch sein kann. Den zunächst eher nur grätzig wirkenden Autobesitzer und Familienvater lädt Tore („Ich bin der neue Messias!“, debiles Lächeln: „War ein Scherz.“) zu einer dieser Jesus-Punk-Erweckungsfeierlichkeiten ein, wo Tore dann leider weniger Pogo tanzt als zuckt, weil er nämlich einen epileptischen Anfall erleidet. Er selbst wird das Phänomen später als: „Der Heilige Geist kam über mich“ definieren, und mit dieser Art des „Über Tore Kommens“ wird der Heilige Geist im Lauf des Films nicht sparen – meist in Augenblicken, in denen Tore von der Weltlichkeit der Welt überfordert zu sein scheint.
Zunächst aber nimmt Benno, der Familienvater mit dem Auto, Tore mit zu seiner Datscha, wo Ersterer mit seiner kleinen Patchworkfamilie den Sommer in einer Kleingartenkolonie verbringt und zunächst auch nett und freundlich rüberkommt. Dass er Tore dann doch nicht erst ins Krankenhaus bringt, bloß weil der sagt, der Heilige Geist war beteiligt, dafür wollen wir noch dieses Mal die eher proletarisch-rustikale Denkweise von Benno verantwortlich machen, nicht ein typisch deutsches inkonsistentes Drehbuch.
Nicht inkonsistent, sondern immer schräger erscheint das Drehbuch aber sukzessive, wenn man die weitere Entwicklung Tores verfolgt. Hatte man zu Beginn noch darauf gehofft, dass sich der Film irgendwie und analytisch der Verwirrung des Geistes junger, fanatisierter Menschen widmet und die eine oder andere kluge Beobachtung dabei macht, bleibt einem schon langsam die Spucke weg, als Tore in seiner Christen-Punker-WG nicht damit klar kommt, dass sein Kumpel so etwas wie ein voreheliches Sexualleben praktiziert. Gerade so, als habe er statt eines nackten Girls einen Mord beobachtet, wendet er sich blass und angeekelt ab, um auszuziehen (aber nicht sich …). Auch jetzt kann man sich natürlich noch darüber freuen, wie deutlich der Film die Absurdität und die Inhumanität überkommener christlicher Dogmen und ihre psychologisch problematischen Folgen herausstellt.
Das sich einstellende Problem ist nur: Der Film hat das offenbar überhaupt nicht vor! Im Gegenteil. Tore, der wieder zu Benno und dessen Familie flüchtet, wird selbstloser und asketischer und selbstkasteiender von Filmminute zu Filmminute, und wo diese Entsagungen zu Gunsten des Heiligen Geistes noch nicht ausreichen, da hilft freundlich Benno nach, der sich parallel dazu mehr und mehr als das personifizierte Böse entpuppt, indem er dem doch auch mal nicht grinsenden, aber immer noch dumm guckenden Tore auf die Nase boxt, gegen seine Schienbeine tritt, oder dann irgendwann ihn einfach mal so in einen veritablen Brutalo-Männerpuff steckt (die sonderbarste Kreation dieses an sich schon die kleinbürgerlichen Verhältnisse fantasievoll gestaltenden Films), wo ihn plötzlich die Schrebergartenkumpels, die doch vorher wirklich noch ganz nett und normal wirkten, aber so was von gründlich in den Arsch ficken. Armer unter der Dusche von rückwärts blutender Tore, der aber nun weiß, dass Gott ihn hierher geschickt hat. Und das hat ja auch sein Gutes.
Spätestens als Tore gemerkt hat, dass Benno sich natürlich auch noch an seiner eigenen Stieftochter vergeht (und das wiederum Benno gemerkt hat), gehts Tore nun ans Eingemachte. Er wird Ziel diverser Sadismen, ein besonders subtiler ist das Zufügen einer Lebensmittelvergiftung durch Einfütterung von vergammeltem Fleisch. Und so fällt der leider kaum mehr zum Sympathieträger Taugende von einer Kotzerei in die andere, von einer Ohnmacht in die nächste, nur um sich umso lustvoller weiter peinigen zu lassen, denn Gott hat ja seinen Gefallen daran, wenn der Christenmensch dem Widersacher sämtliche Backen hinhält. Tore, nicht faul, hat derer zahlreiche.
Und Benno (irgendwie verständlich) lässt nun erst recht richtig die Sau raus, zeigt, wie richtig gemein er sein kann, indem er die Nachbarskatze in einer Regentonne ertränkt (folgerichtige Reaktion Tores: epileptischer Anfall, folgerichtige Reaktion eines deutschen Drehbuchs: Kein Hahn kräht nach, kein Nachbar fragt nach einer Katze, die nass und tot auf dem Rasen liegt), und seine Freundin und auch ihre Freundin, komischerweise, finden das auch alles ganz witzig, besonders, wenn Tore eher tot als lebendig, auf dem Boden liegt, denn dann können sie anfangen, ihn mit ihren Stöckelschuhen zu triezen und zu demütigen. Ja, auch über diese doch so harmlos wirkenden Damen, bisher eher nur des Lasters lustiger Umtrünke verdächtig, ist nun das abgrundtiefe Böse gekommen. Das gibt uns zu denken. Denn so sind sie, die Atheisten, und so waren sie schon, bevor sie Atheisten waren (also bevor Gott zu wirken anhub).
Leider sieht der Film in all dieser Figurengebung auch keinerlei Ambivalenzen, geschweige denn biografische Kausalitäten oder folgerichtige Entwicklungsschritte, er und seine unheilschwanger schwankende Kamera und seine zum Ertauben hypnotisch dräuend rumpelnde Musik schieben den Zuschauer stattdessen zu seinem altbekannten dichotomischen Endurteil: Die Menschheit ist von Natur her böse, und ihr zu helfen ist nur Gott imstande, oder Jesus, der daselbst sich opfert und zermatscht im Tümpel liegt. Es gibt nämlich noch ein dezent angedeutetes Happy End. Aber nicht für Tore, sondern für die Stiefkinder. War nämlich doch kein Scherz, dass Tore der neue Messias ist.
Ein Film mit einer Message und mit einem Messias. Wie lange haben wir darauf schon gewartet? Wie schön, dass die Problematik der Welt immer mal wieder so einfach herzuleiten ist, und überhaupt Danke für dein Opfer, Jesus/Tore! Jetzt schmeckt uns die Butter auf dem Brot wieder und die fiesen Prolls und Päderasten gehen sich alle schämen.
Schlussbemerkung: Was soll dieser Film? Das Thema Passionsgeschichte hat doch schon Lars von Trier mehrfach in seinen Filmen und besonders vielschichtig und doppelbödig und dreifach gebrochen in „Breaking the Waves“ verhandelt. Bis ins Detail kann man wiedererkennen, an welchen Stellen sich die Regisseurin von „Tore tanzt“ von diesem Film hat inspirieren lassen. Aber wo Trier die Reflexion über das Wesen der christlichen Religion(en) erfolgreich befördert hatte (da wo „Breaking the Waves“ als Film das Zeug hatte, gleichzeitig Atheisten zum Christentum zu bekehren und Christen zum Atheismus), betäubt Katrin Gebbe die letzten Zuckungen des Gehirns mit einer Totschlagargumentation, die ja doch selbst unreflektiert stumpf-christlichsten Wesens ist.
Mein Urteil: Tore, ja, gerne, aber bitte nur von Hannover 96.