Ein überzeugender und ausgesprochen sehenswerter Dokumentarfilm, der sich mit den Defiziten des wirtschaftsorientierten, weltweit geltenden Bildungssystems befasst. In einem Wort: es geht um die Kreativvernichtung durch PISA. Erwin Wagenhofer hat damit seine mit „We Feed The World“ und „Let’s Make Money“ begonnene Trilogie vollendet. „Alphabet“ ist der Paukenschlag, jetzt was gegen die ausschließliche Elitebildung und den Leistungsdruck zu tun, angefangen am ersten Schultag der Kinder und davor. Eltern sind gefordert, zu einer Haltung zu kommen, die das riesige Kreativpotential, mit der jedes Kind zur Welt komme, zur Geltung kommen lässt. Da ich Opa bin, bin ich hiermit auch gefordert, die Eltern davon abzubringen, nur die Anforderungen der Schule im Auge zu haben, und die Enkel nicht machen zu lassen, was sie (die Enkel) in sich haben; allerdings kommt diese mein, vom Film beförderte Einsicht, im Film nicht vor.
Wohl aber wendet sich der Film manifestartig gegen die Beflissenheit, mit der junge Menschen gedrillt werden, Mitglied der Leistungsgesellschaft zu werden – am liebsten ohne eigene Haltung. Wagenhofer bedient sich dabei nicht einer indoktrinierenden Argumentationskette, sondern stellt in aller Ruhe eine Reihe von Personen, vor allem von prominenten, wenn auch stets eine eigene, durch aus vom Mainstream abweichenden Wissenschaftlern vor, denen das Wort nicht abgeschnitten wird. Respekt! Ich meine damit, dass der Film selbst von der stressigen, wenn auch vorherrschenden Dokumentarfilm-Montage abweicht, die hinter jedem Satz einen Schnitt macht, um das, was Interviewpartner zu sagen haben, zur Illustration für das Allwissen des Regisseurs zu degradieren, der halt nur der Beste sein will. Nur der Beste zu sein, oben auf den Charts, gegen alle anderen, – das ist bekanntlich das Ziel der neoliberalen Leistungskultur. „Alphabet“ stellt das heraus. David Foster Wallace hat das beispielhaft für das Unwesen der US-Tennisakademie beschrieben (Infinite Jest/Unendlicher Spaß). Wär schön, dieses Buch (das erste Drittel) mit dem Film zusammenzudenken.
Der Film beginnt damit, einen deutschen PISA-Koordinator auf einer Chinareise zu begleiten. Wir sehen einen Schüler, PISA-Bester, aber so, wie er aussieht, emotional verkümmert und einer der Schüler-Selbstmordkandidaten, für die China ebenfalls Spitze ist.
Gegenbeispiel ist ein Spanier mit sowohl Down-Syndrom als auch Universitätsabschluss, der mit den anderen zusammen bestehen will. Vom Hirnforscher bis zum Personalvorstand rufen alle dazu auf, von unten her, das etablierte Bildungssystem zu ändern. Haltung zeigen! Sich bewegen! Aktiv werden! Los, in die Puschen! – Das ist es! Opa fängt damit an. Er kennt das.
Dieser Text ist zuerst gekürzt erschienen in: Konkret 11/13