Wadjda (Waad Mohammed) ist anders als die anderen. Das 10-jährige saudi-arabische Mädchen trägt nämlich Turnschuhe, hört Popmusik und verkauft selbstgebastelte Armbänder. Während sie im Schulunterricht eher durch Schweigen auffällt, gibt sie sich zu Hause bei der Mutter (Reem Abdullah) umso eloquenter und selbstbewusster. Tatsächlich ist die Titelheldin aus Haifaa Al Mansours Film „das Mädchen Wadjda“, dem ersten Kinofilm einer Regisseurin aus Saudi-Arabien, auch ganz anders, als wir uns das von einem jungen Mädchen dieses sehr religiös geprägten Landes vorstellen. Denn sie zeigt sich nicht nur aufgeweckt und vorwitzig, sondern auch aufmüpfig und kämpferisch. Wadjda lässt sich nicht alles gefallen und widerspricht, wenn es sein muss. Weil das in der restriktiven, autoritär geführten Gesellschaft, in der sie lebt, aber nicht geduldet wird, muss ihr aufsässiger Geist unter dem Schleier der Anpassung immer wieder Tricks und Kniffe anwenden, um seine Ziele zu erreichen.
Der Erwerb eines Fahrrads, das sie sich bei einem Spielwarenhändler ausgeguckt hat, besitzt diesbezüglich höchste Priorität. Ihrem Kameraden Abdullah, der sie eingangs ärgert und mit seinem Drahtesel abhängt, will sie damit Konkurrenz machen. Doch es fehlt ihr zum Kauf nicht nur das Geld, sondern in dem islamischen Land untersagt ein ungeschriebenes Gesetz den Mädchen, überhaupt Fahrrad zu fahren. Diese Einschränkung des kindlichen Bewegungsdranges spiegelt sich auch im Fahrverbot für Frauen, die für ihre Wege zur Arbeit oder zum Einkaufen auf Fahrer angewiesen sind. In einer der vielen Episoden und Hintergrundgeschichten, die unaufdringlich und genau solche wichtigen Details des Alltagslebens erläutern, müssen sich Mutter und Tochter mit dem Machogehabe und den Machtspielen ihres ausländischen, offensichtlich illegal arbeitenden Chauffeurs auseinandersetzen.
Die komplexe, wohltuend unaufgeregte und weitgehend ideologiefreie Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse gehört zu den Stärken des Films. Die Spannungen zwischen individuellem und öffentlichem Leben, die in einer reglementierten Gesellschaft besonders brisant sind, betreffen hier zwar Menschen beiderlei Geschlechts; Haifa Al Mansour akzentuiert aber ganz klar die weibliche Perspektive. Vor allem die parallele Welt der Frauen, die sich zu Hause hinter verschlossenen Türen völlig ungezwungen und unerwartet frei entfaltet, erlaubt dem westlichen Zuschauer ungewohnte Einblicke in einen weitgehend verborgenen Alltag. Darin spielen Kinderlosigkeit, die Verpflichtung auf einen männlichen Stammhalter und die damit verbundene, durchaus unfreiwillige Suche des Vaters nach einer Zweitfrau eine wichtige Rolle. Geschickt und mit einfachen Mitteln erzählt, verknüpft die Regisseurin die von Autoritäten, strengen Vorschriften und gesellschaftlichen Hindernissen umstellten Geschichten von Mutter und Tochter. Und sie entdeckt auf humorvolle Weise in ihnen nicht nur eine findige Kraft des Wollens, sondern auch eine tiefe zwischenmenschliche Verbundenheit, die sich mit einem Gefühl fast utopischer Leichtigkeit über die Schwere des Alltags erhebt.