Schon nach wenigen Minuten ist man von der Magie dieses Films gefangen genommen. Ebenso schnell ist klar: dies ist kein deutscher Film, keine kaputt subventionierte, redaktionell intensiv betreute Mittelmäßigkeit mit den immer gleichen TV-Stars. „Ihr werdet euch noch wundern“, der neue Film des fast 91jährigen Alain Resnais, der schon Meisterwerke wie „Letztes Jahr in Marienbad“ drehte, als Alexander Kluge noch am „Oberhausener Manifest“ feilte, ist »richtiges« Kino mit Schauspielern der Klasse Michel Piccoli, Pierre Arditti, Lambert Wilson, Sabine Azéma oder Mathieu Almaric. Warum kann/will man sich eine äquivalente Besetzung mit deutschen Schauspielern nicht vorstellen?
In einer unerhört auratischen Exposition werden alle Schauspieler als sie selbst angesprochen und mit der schlimmen Nachricht überrascht, dass der Theaterregisseur Antoine d’Anthac plötzlich verstorben sei. In der Morgendämmerung, beim Reinigen seiner Jagdflinte. Man gehe trotzdem von einem Unfall aus. Die Schauspieler, die mit dem Regisseur Triumphe feierten, werden auf dessen Landhaus eingeladen. Totenwache? So was Ähnliches, es geht ums Theater. Sämtlichen Anwesenden ist gemeinsam, dass sie einst an fabulösen Inszenierungen der „Eurydike“ von Jean Anouilh beteiligt waren. Und eine neuere, etwas experimentelle Inszenierung dieser Modernisierung des „Orpheus“-Stoffes in existentialistischem Geist wird ihnen jetzt als Video vorgeführt, gedreht übrigens von Denis Podalydès, der im Film den verstorbenen Regisseur spielt.
Binnen kürzester Zeit gelingt es Resnais auf das Eleganteste ein sehr komplexes, intellektuell prickelndes Setting zu etablieren: Theater auf Video, Schauspieler als Kritiker, die natürlich sofort ihre Distanz verlieren und auf das Stück einsteigen, wenn »ihre« Textstellen kommen. Erst bewegen sich nur die Lippen, später auch die Körper. Hatte nicht beim Eintritt der Schauspieler in das Landhaus eine Schrifttafel warnend an Murnaus „Nosferatu“ erinnert? „Als sie die Brücke überschritten hatten, kamen die Phantome auf sie zu.“ Wo befinden wir eigentlich gerade? Schon im Reich der Toten? Oder im Reich des Kinos, wo Menschen im Gegensatz zum Theater nicht altern, sondern ewig jung bleiben – wie James Dean? Und wo alte Menschen plötzlich wieder in Texte schlüpfen, die sie vor Jahren sprachen. Anachronismen. Dazu kommen Doppelbesetzungen einzelner Rollen, so dass wir nicht umhin können, uns „Eurydike“ als vielfach verspiegelte Polyphonie aus Wiederholungen und Echos vorzustellen, zumal die Filmhandlung in deutlich erkennbarer Kulisse abläuft.
Film und Theater durchdringen einander buchstäblich, scheinen durch Orte und Sound verzahnt und erzeugen einen traumartigen Schwindel, wobei die Videoaufzeichnung der experimentellen Theaterinszenierung weitaus weniger artifiziell erscheint als das Set des Films. Und dann übernimmt die Literatur das Kommando, denn der „Eurydike“-Stoff bemächtigt sich der Schauspieler, die in ihre alten Rollen fallen. So sehen sich die um ihren Regisseur Trauernden plötzlich bemüßigt, von der Schönheit des Todes angesichts der Mühsal des Lebens zu schwärmen. Es schadet nicht, sich den alten Text des einst modischen und heute längst vergessenen Autors Anouilh präsent zu machen, um die Verve, mit der Resnais hier sämtliche Kunstformen für eine Feier der Macht des Kinos instrumentalisiert, zu erfassen.
Resnais ist der Marionettenspieler im Hintergrund, der, wie der verstorbene Regisseur Antoine d’Anthac, ein großer Freund des »coup de theatré« ist. Weshalb er sich auch einige Überraschungen bis ganz zum Schluss aufhebt, um die alte Geschichte von Orpheus und Eurydike noch zwei oder drei Mal zu wenden. Bis kein Stein mehr auf dem anderen steht und der Originaltitel des Films eingelöst ist, der davon spricht, dass das Beste erst noch kommt. Beziehungsweise, um es mit Bachman Turner Overdrive zu stottern oder Al Jolson zu sagen: „You ain’t seen/heard nothing yet!“ Word, Baby!