„Die neue Zeit ist zutiefst revolutionär und sich dessen bewusst. Auf keiner Gesellschaftsebene will man weitermachen wie bisher.“ Als die Situationisten 1972 ihre Kampfschrift Die wirkliche Spaltung in der Internationalen veröffentlichten, hatte sich die französische Linke weitgehend selbst kannibalisiert. Die Kämpfe von ‘68, als sich die Studenten und die Linke einen Sommer lang auf Augenhöhe mit der Arbeiterschaft wähnten, waren längst auf Nebenschauplätze verlagert. Der Protest diente nur noch Partikularinteressen. Wie sich die revolutionäre Zeit ohne wirklich revolutionäre Subjekte gestaltet, erzählt der französische Regisseur Olivier Assayas in seinem autobiographisch gefärbten Film “Die wilde Zeit”.
Der deutsche Titel ist so dämlich, dass er hier nur aus Chronistenpflicht Erwähnung findet. Im Originaltitel “Après Mai” (Nach-Mai) schwingt dagegen die Enttäuschung der spätgeborenen Jugend (zu der sich auch Assayas zählt) mit, an den revolutionären Prozessen knapp vorbeigeschrammt zu sein. Statt dessen durchlief diese Generation ihre politische Initiation in den Trümmern einer bürokratischen Widerstandsrhetorik.
“Après Mai” spielt am Übergang zur “neuen Zeit”: dem Coming-of-Age einer Jugend, die gerade noch die verlorene Freiheit erahnt und dafür gleich am Anfang von der Polizei brutal niedergeknüppelt wird, und dem Coming-of-Age eines revolutionären Gedankenguts, das sich nicht erst in Gremien und Räteabstimmungen legitimieren musste. “Après Mai” handelt also von Reifeprozessen. In den Moment, die Situation sozusagen, müssen sich Assayas’ jugendliche Protagonisten zwar noch einfühlen, aber die fiebrige Antizipation, an etwas Großem teilzuhaben, ist schon überwältigend – und gleichzeitig verdammt einschüchternd. Was tun, wenn einem theoretisch alle Möglichkeiten offenstehen?
Gilles, Assayas’ Alter ego, kriegt das situationistische Pamphlet erst ganz am Schluss in die Hände. Da öffnet “Après Mai” noch einmal die Synapsen, um frische Impulse in die bleierne Zeit der frühen Siebziger zu lassen. Aber Assayas stutzt auch diese aufkeimende Utopie mit einer letzten lakonischen (und gänzlich unhämischen) Volte. Gilles, der eine revolutionäre Syntax für ein revolutionäres Kino einfordert, fährt zur Arbeit am Set eines Nazi-/Monsterfilms. Das Kino des Feindes. Die anderen cinephilen Referenzen in “Après Mai” sind politisch über jeden Zweifel erhaben: Bo Widerbergs “Joe Hill” und “El Coraje del Pueblo” des bolivianischen Filmemachers Jorge Sanjinés, ein Klassiker des antiimperialen Kinos. Abends geht Gilles in einen experimentellen Filmclub, wo ihm seine verflossene Liebe, die immer in ihrer eigenen Zeit gelebt hat, von der Leinwand die Hand entgegenstreckt.
Assayas’ Beschäftigung mit dem politischen Radikalismus der Siebziger nimmt hier eine persönliche Wendung. Während “Carlos” die Auswüchse linker Politik auf einer globalen Skala rekapitulierte, kehrt Assayas nun an die Peripherie zurück, wo die politischen Deklamationen einige Nummern kleiner ausfallen. In der Pariser Vorstadt spielte schon sein anderer Siebziger-Jahre-Jugendfilm “L’eau froide” (1994), mit dem “Après Mai” mehr als nur die Namen seiner beiden Hauptfiguren Gilles und Christine gemein hat. Gilles, Christine, Alain und Jean-Pierre sind, ganz grundsätzlich, überhaupt nicht einverstanden und versuchen sich in verschiedenen Praktiken des (mehr oder weniger) zivilen Ungehorsams. Auf der Straße beziehen sie Prügel, im Schülerrat wird nur schlau gequatscht. Darum verzieren sie nachts die Fassade ihrer Schule mit Parolen.
Die nächtliche Aktion filmt Assayas wie aus einem Guss: eine begeisternde, agile Performance, die Bewegungsabläufe greifen nahtlos ineinander. Diese Inszenierung kommt der Idee von politischer Kunst in einem embryonalen Stadium schon recht nah. Das Kollektiv verleiht der politischen Position eine ästhetische Form. Assayas löst mit “Après Mai” gesellschaftliche Zusammenhänge und die Widersprüche von jugendlicher Identitätsfindung und staatlicher Zurichtung immer wieder auf so einleuchtende Weise erzählerisch auf. Und er spielt verschiedene Möglichkeiten alternativer Lebensentwürfe durch, auf die man sich als Teenager noch nicht festlegen will. Dazu gehören natürlich Sex, am besten auf Drogen, und wie immer bei Assayas: Musik. In “Après Mai” laufen der Hippie-Dippie-Folkrock der Incredible String Band, die dunkle Rorschach-Psychedelik eines Syd Barrett, der progressive Acid-Pop von Soft Machine und Kevin Ayers und der knarzige Kryptoblues Captain Beefhearts.
Es ist deutlich zu spüren, dass “Après Mai” auch Assayas’ persönliche Geschichte erzählt. Dennoch ist sein Film frei von jener Verklärung, mit der sich etwa Bertolucci in seiner weich gezeichneten Altmännerphantasie “Die Träumer” an die Pariser Unruhen an 1968 erinnerte. Die Aufregung, Wut und Verwirrung, die die Kamera aus unmittelbarer Nähe in den Gesichtern registriert, lässt erahnen, dass etwas mehr auf dem Spiel steht als die eigene Unschuld. Assayas nimmt die Träume seiner Protagonisten, genauso wie ihr vorläufiges Scheitern, sehr ernst. Gilles wendet sich dem Kino zu, Alain der Malerei, Christine geht mit einem Filmemacherkollektiv nach Italien, Jean-Pierre wird in der Gewerkschaft aktiv. Die Biographien driften – wie die politischen Bewegungen nach 1968 – langsam auseinander.
Politik begreift Assayas als Konzept, das man sehr unterschiedlich und auch sehr falsch ausgelegen kann. Dass der Begriff eine (richtige) Haltung gegenüber den Verhältnissen voraussetzt, hat er vor zehn Jahren der Witwe Guy Debords in einem langen Brief erklärt. “Selbst wenn du als Jugendlicher in den Siebzigern nicht für deine Überzeugung eintratst, bestand eine Verpflichtung, die dich als Subjekt in Relation zur Gesellschaft definiert: deine Verantwortung für die Welt. Aber dieses Verhältnis war nicht das Problem: Die eigentliche Herausforderung bestand darin, sich auf die richtige Methode und die richtigen Werte zu einigen, mit denen man den gesellschaftlichen Zuständen entgegentritt.”
Der Brief erschien kürzlich, erstmals in englischer Sprache, in der Textsammlung A Post-May Adolescence und liefert gewissermaßen den Schlüssel zu den psychedelischen Unschärfen und identifikatorischen Trial-and-Error-Prozessen in “Après Mai”. Assayas beschreibt das Scheitern von ’68 als eine Befreiung von politischen Dogmen – wofür ihm erst Debords Texte die Augen öffneten. Will man Assayas etwas vorwerfen, dann, dass sein Film endet, als es gerade interessant wird. Als Debords Versprechen einer “neuen Zeit” tatsächlich eine gesellschaftliche Brisanz besaß.
Olivier Assayas: A Post-May Adolescence. Synema, Wien 2012, 104 Seiten, 14 Euro
Kent Jones (Hg.): Olivier Assayas. Synema, Wien 2012, 256 Seiten, 22 Euro
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 6/2013