Ob es besser sei, beim ersten Mal den Sexualpartner zu lieben oder aber emotional „neutral“ zu sein, fragen sich zwei junge Mädchen am Anfang des Films beim Spaziergang in einem Pinienwald. Während sich die 15-jährige Elena (Roxane Mesquida) zur romantischen Liebe bekennt und damit zu einer Sexualität des Gefühls, ahnt ihre jüngere Schwester Anaïs (Anaïs Reboux) schon früh die Verletzungen, die diesem Ideal jugendlicher Unschuld innewohnen und plädiert deshalb nüchtern für die Trennung der körperlichen von der seelischen Liebe. Vielleicht ist es dieser Dualismus, der die Zwölfjährige weniger angreifbar macht, sie schützt und letztlich überleben lässt. Jedenfalls erfahren beide Mädchen im Verlauf des Films auf schmerzhafte Weise das herbeigesehnte Ende ihrer sexuellen Unschuld. Eine gewissenlose Verführung und eine brutale Vergewaltigung, deren strukturelle Gleichsetzung geradezu schockierend und obszön wirkt, bilden die Schlüsselszenen in der Darstellung männlicher Gewalt. Schon ihr umstrittener Film „Romance“ handelte mit kühler Präzision von der Unmöglichkeit, Liebe und Sexualität miteinander zu verbinden. In „Meine Schwester“ ('A ma sœur“) treibt die französische Schriftstellerin und Filmemacherin Catherine Breillat mit analytischer Schärfe die Desillusionierung noch einen Schritt weiter: Ehe die Befreiung aus den Zwängen der Pubertät wirklich werden könnte, findet sie ein deprimierendes Ende.
Bereits das Lied über die als existentiell empfundene Langeweile der Adoleszenz, mit dem die vernachlässigte Anaïs ihre romantische Todessehnsucht ausdrückt, färbt die sowohl ungleiche wie symbiotische Beziehung der Geschwister tragisch. Da Elena schön und anziehend ist und sich beim Ferienaufenthalt in Italien am Meer bald in den römischen Jurastudenten und Frauenhelden Fernando (Libero de Rienzo) verliebt, bleibt für die dickleibige Anaïs nur noch der Spott ihrer Schwester und die Eifersucht einer von unterschwelligen Rivalitäten bestimmten Hassliebe. Für Elena ist die stille Zeugin geduldetes Anhängsel und entlastendes Alibi für ihre geheimen Stelldicheins gegenüber den ansonsten demonstrativ gleichgültigen Eltern. Trotzdem gibt es zwischen den beiden eine Komplizenschaft, die auf geradezu spiegelbildliche Weise die eine zum jeweiligen Teil der anderen macht. Während sich Elena ganz materialistisch über ihr Äußeres und die gängigen Statussymbole definiert, schöpft Anaïs mehr aus ihrem Inneren. Die Distanz schärft ihr den Blick und mit ihrem schweren Körper markiert sie Grenzen. Wenn sich am gewalttätigen Schluss diese Rollen scheinbar vertauschen, tatsächlich aber auf hässliche, vielleicht denunziatorische Weise bestätigt werden, liegt in der plötzlichen Willkür, mit der dies geschieht, eine gewollt schicksalhafte Konsequenz, die zu weit geht, aber in der Architektur des Films begründet liegt.
Breillats harte, ungeschönte Darstellung sexueller Probleme besitzt zwei längere Szenen, die eindringlich und genau den Fokus ihres Interesses konzentriert abbilden: Die dramaturgisch aufsteigende Verführungssequenz, in der Lorenzo mit Versprechungen, schönen Komplimenten und Liebesbeteuerungen die von Zweifeln, Ängsten und Zugeständnissen hin und her gerissene Elena sexuell gefügig macht; und die dem Höhepunkt folgende Autobahnfahrt nach den abrupt abgebrochenen Ferien, die von einer klaustrophobischen Atmosphäre und latentem Terror erfüllt ist. Betrug und Verrat, Sprachlosigkeit und Unverständnis vermitteln hier einen nüchternen Blick von der unaufhebbar erscheinenden Geschlechterdifferenz und fügen sich so zum ungeschminkten Bild zwischenmenschlicher Entfremdung.