Der konterrevolutionäre deutsche Filmtitel führt in die Irre. „Der Tag wird kommen“ … will sich fortsetzen etwa wie … an dem Ihr in das Reich des Herrn eingehen werdet. Oder ins Paradies der Einkaufszentren. – Damit sind wir zwar in der top location dieses Films. Aber mit falschen Erwartungen. Denn der Originaltitel des Films „Le grand soir“ steht als politischer Begriff fest: wir sind am Vorabend der Revolution.
Auwei, solche Botschaften haben bleierne Füße, und wie sollen dann Leute ins Kino à la mode kommen? Das wird sich der deutsche Verleih gesagt haben. Tatsächlich werden im Film zwar null politische Phrasen gedroschen. Aber es wird einwandfrei anarchisch gespielt. Im einem dieser von der Stadtmitte ausgesourcten Einkaufszentren. Mit dem Auto schnell (Parkplatz genug!), aber zu Fuß langweilig zu erreichen (Ausfallstraße, endlos).
Das Adverb NOT hat er auf seine Stirn tätowiert. Er: das ist der in die Jahre gekommene Punk, im Alter, in dem andere die midlife crisis kriegen. Er aber, weit und breit der älteste Punk-mit-Hund (Benoit Poelvoorde), ist sich einer Sache sicher: Die Antwort auf alles, was von ihm gewollt wird, ist das NICHT auf der Stirn.
Was nicht so gern gesehen wird, macht erst recht Spaß. Der Film lebt von diesen frechen und irrkomischen Momenten. Nackt duschen im Kreisverkehr auf der Insel. Sie ist geschmückt mit einem überdimensioniertem Kunstwerk, dem Nachbau einer altrömischen Wasserleitung. Ein Wasserfall ergießt sich (wir sind im Einkaufszentrum von Bègles bei Bordeaux). – Wie übernachten? Am besten samt Hund in einem der Kinderhäuser vor den Juniorshoppingauslagen. Und was ist mit dem Morgen-Yogurt? Den beiden reizenden Damen, die auf dem Parkplatz mit der Fernbedienung ihr Auto geöffnet haben, kommt er zuvor, nimmt sich aus der Einkaufstüte einen Becher und Danke auch.
Heile Punk-Anarcho-Welt, und wir sind nicht weit vom alten Diogenes-mit-Hund und seinem Es-ist-so-easy, Leute. Aber es geht weiter. NOT/NICHT hat Eltern. Sie betreiben ein Kartoffelbistro im Zentrum und füttern ihren Punk durch. Auch gibt es einen Bruder, Verkäufer im Bettenshop, verheiratet, 1 Kind. Es dauert nicht lange, und er ist Job, Frau und Kind los. NOT tätowiert ihm ein DEAD auf die Stirn. Dann gehen beide im Einkaufszentrum Scheiß bauen, wobei gern der ausgestreckte Mittelfinger benutzt wird, aber sowieso genug zu Bruch geht. Geil, das.
Dem Film fallen viele schöne Sachen ein. Von mehr als cineastischem Interesse ist die Anarchoperformance vor den Überwachungskameras. Wie das geht? Ankucken! Aber wohin führt das Ganze? Auch die lieben Pataterie-Eltern schmeißen hin. Was ist mit den anderen? NOT und DEAD sind beim stage diving im Punk-Club. Da geht was ab, Mann! Wenn auch voll Alk und sonst was, – ist das jetzt die vorrevolutionäre Gemeinschaft, die künftige Garde? Komm da was zum Vorschein?
Tja, die beiden Punk-Brüder sind nicht mehr an die 20, sondern an die 40. Sie wollen was bewegen. Sie rufen, wen sie kennen, zum meeting auf. Haben Altpunks weder iPod noch Facebook? Ergebnis: sie bleiben unter sich. Letzte Botschaft: Sie bauen aus den Leuchtbuchstaben der Läden und Märkte Buchstaben ab, bis sie den Schriftzug haben: we are NOT DEAD, aufgestellt und weithin sichtbar auf einem Hügel. In Hollywood-Manier.
Uff. Ein Lehrstück? Wohl denn doch nicht. Denn dem erhobenen Zeigefinger steht der dokumentarisch und teils improvisiert wirkende Charakter dieses Films entgegen. Die Regisseure Gustave Kervern und Benoît Delépine (Louise Hires A Contract Killer') haben ihren Anarchotypen Raum gelassen. Dialoge werden nicht abgefeiert; sie entstehen an Ort und Stelle. In einer Fülle von kleinen Szenen, kommen Leute zu Wort – schräge Voll-Persönlichkeiten -, die mit bösem Witz die Situation nicht nur beherrschen, sondern überhaupt erst herstellen. Geprobt ist das nicht. Und man glaubt, was man sieht, sofort. – Ja, herrgott, ich sags frei heraus, so abgenutzt wie das Wort ist: die Authentizität der vielen kleinen (und sowieso der großen) Mitwirkenden trägt den Film. Ohne dass dem kritischen Rezenten Bedenken kommen. Während des Films.
Auch nimmt man den Orten, an denen gedreht wird, ohne weiteres ab, dass sie so sind, wie sie sind. Okay, ich rede von locations und Bauten und Ausstattung. Wie üblich bei Spielfilmen. Aber jetzt aufgemerkt: vergessen Sie die drei Wörter. Gedreht ist in einem real existierenden Einkaufszentrum mit real laufenden Überwachungskameras und mit realem Publikum. Es nutzt die paradiesischen Konsumtempel zum Flanieren. Alles von hohem Wiedererkennungswert. Der Film kommt an, mit der Anarcho-Komik. Folge: Spezialpreis der Jury in Cannes. Geht doch!
Versteckte Botschaften gibt’s auch. Der dicke Depardieu, Wahrsager im Asia-Outfit, sieht die Zukunft voraus. Hinter ihm ein blauer Design-Horizont, der mit Picassos Friedenstauben übersät ist. Hallo! Verstanden?!
Was ich behaupte, ist, dass der Film eine unvermutete Langzeitwirkung haben wird. Dass die Bewegung mangels Einsatz moderner Kommunikationsmittel nicht zustande gekommen ist, – geschenkt. Denn wir sind nicht so weit. Wir sind, Sie erinnern sich, am Vorabend der Revolution. Und da geht’s ums Gewahrwerden, dass etwas bevorsteht, das mich aktiviert. Der gute alte Bloch schwärmte vom Vorschein, von etwas, das kommen wird. Und ähnlich, aber von der anderen Ecke, begeisterte Derrida die Nicht-Gestalt von etwas, mit dem ich, wir, die Gesellschaft schwanger geht. Das NICHT/NOT solange, bis die Gestalt geboren ist (Jawohl, das war Derridas Bild) und nicht tot ist, sondern lebt.
Sorry, die letzten Zeilen müssen nicht sein, ich hab sie nur grad im Kopf. Aber bittschön, man kann mithilfe des „Grand soir“ auch was ganz Praktisches in den Blick nehmen. Es ist ja nicht nur der Film allein. An allen Ecken und Kanten, in voller Breite häufen sich die Lamentos über den Zerfall der Gesellschaft, fette Beute des Neoliberalismus, des Markts, der Banken-Mafia. –An welchem Punkt der Maßverhältnisse schlagen die Lamentos um in eine neue Qualität?
Gute Frage. Der Film stellt sie, falls man ihn nur ein bisschen auf sich wirken lässt. Also dann: heute noch weiter anheizen, bis morgen der Siedepunkt erreicht ist.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 5/2013