Würde man Catherine Breillats Debütfilm „Ein wirklich junges Mädchen“ ('Une vraie jeune fille') aus dem Jahre 1976, der wegen diverser Freizügigkeiten und Tabubrüche erst 1999 in den französischen Kinos gestartet wurde, unter die Coming-of-age-Geschichten rubrizieren, käme dies einer Verharmlosung des Sujets gleich. Zwar thematisiert Breillat in dieser provozierenden Verfilmung ihres vierten Romans „Le Soupirail“ das sexuelle Erwachen eines jungen Mädchens, das sich Mitte der sechziger Jahre gleichermaßen eingeengt fühlt von der französischen Provinz und einem restriktiven Elternhaus; doch das eigentliche Gefängnis, in dem die 16-jährige Titelheldin steckt, ist ihr Körper: seine Lust, sein Verlangen und Begehren, das keine Erfüllung findet. Diese unstillbare Sehnsucht, als Zustand der Unfreiheit und des Leidens an der eigenen Jugend verstanden, lässt die Protagonistin eine Art destruktive „éducation sexuelle“ erleben, die mit einer ebenso exzessiven wie exhibitionistischen Lust an der Besudelung einhergeht. „Der Ekel macht mich klar“, schreibt Alice Bonnard (Charlotte Alexandra), von Erbrochenem befleckt, mit roter Tinte in ihr Tagebuch.
Catherine Breillat bewegt sich mit der Off-Erzählerin ihres Films in Genre der Bekenntnisliteratur. Wie in den Schriften Georges Batailles verbinden sich auch in Alices Erlebnissen und Tagträumen Eros und Tod, ein Hang zum Morbiden und Phantasien über Grenzverletzungen. Dabei ist das Feuchte und Flüssige ihr Element. Immer wieder suhlt sie sich in Ausscheidungen, in Dreck, Blut und Schleim; sie zerdrückt in ihrer Hand lustvoll ein rohes Ei, steckt sich am Frühstückstisch heimlich einen Kaffelöffel in die Vagina oder schlurft mit hängendem Höschen über eine zugemüllte Wiese. „Symbole machen mir keine Angst“, schreibt Alice in ihr Tagebuch. Und genau das formuliert auch Breillat mit ihrem Film, der artifiziell, distanziert und ein wenig ironisch ist und mit seiner Bildsprache – den gedehnten Augenblicken, der gelenkten Blickführung und einer Vermischung von Traum und Realität – zugleich an der damaligen Sexfilmproduktion partizipiert; trotz seiner schwülen Atmosphäre, exemplarischer Schauplätze und prototypischer Geschlechterkonstellationen allerdings mehr an der künstlerisch verfeinerten Variante eines Walerina Borowczyk, der übrigens zuvor Charlotte Alexandra für 'Thérèse philosophe', die zweite Episode seiner „Unmoralischen Geschichten“ verpflichten konnte.
Eingangs fährt die Internatsschülerin Alice mit dem Zug in die Sommerferien zu ihren Eltern in die Landes an die südwestfranzösische Atlantikküste. Von diesen unterdrückt, von der Gesellschaft misstrauisch beäugt und den jungen Männern aufgrund ihrer Jugend zurückgewiesen, streift sie, von ihrer unerfüllten Lust getrieben, durch die Gegend. Dabei sexualisiert sie mit ihrem sinnlichen Verlangen, ausgedrückt in hungrigen Blicken und neugierigen Berührungen förmlich ihre Umwelt, was Breillat immer wieder in gezielten visuellen Schocks inszeniert. Alices „Gefühl der Beklemmung“ löst sich dabei nicht. Stattdessen ergibt sie sich Unterwerfungsphantasien, in denen ein junger, ziemlich gutaussehender Mann namens Jim (Hiram Keller) eine zentrale Rolle spielt. Mit dieser Figur skizziert Breillat zugleich die kontrastierende Freiheit männlicher Sexualität, die, so ihre These, Frauen zu hörigen, willenlosen Opfern macht. Tatsächlich kommt es schließlich zu einer körperlichen Annäherung zwischen Alice und Jim, die in letzter Konsequenz allerdings nur noch tiefer in den Kerker eines übermächtigen weiblichen Begehrens führt.