„Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht dann mit dem Rest?“ Dieser Satz trifft den Berner Lateinlehrer Raimund Gregorius (Jeremy Irons) an einem verregneten Tag wie ein Schlag. Eben noch hat der zerstreut wirkende Altsprachler vor seiner Klasse über den Zusammenhang von Gedanke und Tat bei Marc Aurel philosophiert, nachdem er kurz zuvor eine junge Frau vom selbstmörderischen Sprung von der Kirchenfeldbrücke abhalten konnte. Jetzt muss er sich von einem Augenblick auf den anderen selbst entscheiden, ob er der Spur dieses Satzes, den die Lebensmüde samt dazugehörendem Buch in einem roten Regenmantel zurückgelassen hat, folgen will. Der Zufall hilft der Seelenverwandtschaft dabei gewissermaßen auf die Sprünge. Oder um es mit den Worten des fiktiven portugiesischen Schriftstellers Amadeu Inácio de Almeida Prado zu sagen, dessen geheimnisvolles Buch „Um ourives das palavras“ (Ein Goldschmied der Worte) Gregorius tief im Innern berührt: „Der wirkliche Regisseur des Lebens ist das Schicksal.“ Und so findet sich der Schweizer Lehrer kurz darauf in den malerischen Gassen Lissabons wieder.
Was er dabei fürs Erste zurücklässt, ist die Routine eines in Langeweile erstarrten bildungsbürgerlichen Lebens, in dessen schlaflosen Nächten er im geschmackvollen Ambiente seiner Wohnung gegen sich selbst Schach spielt. Jetzt stolpert er unverhofft mit wunderlich forschendem Blick und hungriger Neugier auf ein anderes Leben über fremdes Terrain, um die noch rätselhafte Geschichte jenes unbekannten Autors und Arztes zu rekonstruieren und dabei das Sehen neu zu lernen. Denn Bille August geht es in seiner soliden filmischen Adaption des Weltbestsellers „Nachtzug nach Lissabon“, den der Schweizer Philosophie-Professor Peter Bieri 2004 unter dem Künstlernamen Pascal Mercier veröffentlichte, vor allem um die Reise zu einem neuen Lebenssinn. Indem Gregorius im Verlauf seiner spannenden Recherche mit Hilfe zahlreicher Begegnungen und Gespräche allmählich das Lebenspuzzle Amadeu de Prados (Jack Huston) zusammensetzt, wird er mit seinen eigenen nicht gelebten Möglichkeiten konfrontiert. Daneben taucht er tief ein in die Widersprüche der jüngeren Geschichte Portugals zwischen Faschismus und Revolution.
Der routinierte dänische Regisseur Bille August inszeniert diese komplexe Thematik durch ein sorgsam konstruiertes Gewebe aus Rückblenden, in denen Gegenwart und Vergangenheit nahtlos ineinander übergehen. Weitgehend ohne ästhetische Überraschungen huldigt er in seiner mit Stars besetzten internationalen Großproduktion dem schönen, geschmackvoll ausgestatteten Bild. Anders als der Held des Films überlässt Augusts konventionelles und ein wenig behäbiges Qualitätskino nichts dem Zufall. Zudem unterstützt eine unausgesetzte musikalische Untermalung die emotionale Steuerung des Zuschauers. Trotzdem gibt es einige höchst dramatische Momente, in denen Freundschaften im Konflikt zwischen Politik und Liebe auseinanderbrechen, die Solidarität sich gegen das Unmenschliche behauptet, das individuelle und berufliche Ethos zwischen die gesellschaftlichen Fronten gerät und die Ironie der Geschichte die Paradoxien des Lebens vorführt.