„There is no place like home.“
aus: „The Wizard of Oz“ (1939)
Kriegsheimkehrer-Drama, Wirtschaftswunder-Burleske, Schriftsteller-Bohème im Zeichen des Existentialismus, antiautoritäre Revolte, Post-Hippie-Adoleszenz, Deutscher Herbst – das wären wohl die Stationen der Familienchronik, die Oskar Roehler mit „Quellen des Lebens“ vorlegt. Hat man natürlich schon ein paar Dutzend Male gesehen. Aber wie sieht die westdeutsche Geschichte aus, wenn man Fassbinder zwar kennt und bewundert, letztlich aber doch lieber den Ton von „Mein Leben als Hund“ von Lasse Hallström anschlagen möchte? Roehler hat ja davon gesprochen, dass man eigentlich einen John Waters oder einen David Lynch bräuchte, um den Irrsinn und die Widersprüche der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft filmisch auf den Punkt zu bringen. Ist ’ne hübsche Idee, aber mangels Interesse der Amis hat Roehler den Job jetzt selbst gemacht. Herausgekommen ist dabei ein großer Bilder-Verschiebe-Bahnhof, der Konventionelles vielleicht nicht um-, aber überschreibt.
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Familiengeschichte ist bei Oskar Roehler immer auch Sittengeschichte, formuliert durch das Bildinventar der Filmgeschichte hindurch. Nicht umsonst hat man Roehler, der als Drehbuchautor für Christoph Schlingensief bekannt wurde, gerne mit Rainer Werner Fassbinder verglichen. Zunächst, dank verstörender Filme wie „Suck My Dick“ oder „Der alte Affe Angst“ mit dem Fassbinder von „Satansbraten“ oder „In einem Jahr mit 13 Monden“, der dem Kulturbetrieb den Spiegel vorhielt und von Liebes- und Machtspielen, vom verzweifelten Kampf um Liebe und Anerkennung erzählte. Mit „Quellen des Lebens“, der Verfilmung von Teilen seines semi-autobiografischen Romans „Herkunft“, wagt sich Roehler jetzt an eine fast dreistündige Chronik Westdeutschlands zwischen 1949 und 1977 als freier Familiengeschichte. Roehler begibt sich also auf ein Terrain, das Fassbinder mit Filmen wie „Die Ehe der Maria Braun“ oder „Lola“ bereitet hat, schlägt dabei aber gleichzeitig provokantere und versöhnlichere Töne an.
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Als Erich Freytag 1949 aus der Gefangenschaft in Russland zurückkommt, wird er nicht mit offenen Armen empfangen, sondern als stinkender Störenfried wahrgenommen. Nur sein Sohn Klaus hält in dieser Situation zu ihm. Doch Erich lässt nicht locker, beansprucht den alten Platz in der Familie und im Ehebett. Wenige Jahre später wird aus dem linientreuen Nazi ein erfolgreicher Produzent von Gartenzwergen werden. „Quellen des Lebens“ fängt an wie ein typischer Roehler-Film: schrill, trashig und von einem derben Humor geprägt. Doch hier geht es nicht um den BRD-Kammerton: Holocaust, Restauration, Wiederbewaffnung. Roehler ist nachsichtiger, seine Figuren sind fluid. Mag der Großvater auch ein strammer Nazi und an der Ostfront in allerlei Verbrechen verwickelt gewesen sein, jetzt, während des Wirtschaftswunders, entwickelt sich Erich zu einem souveränen Patriarchen, der die Dinge anpackt, die anzupacken sind. Und noch etwas später wird er als Großvater alles tun, um seinem Enkel Oskar ein Familienleben zu schenken. Filmisch gestalten Roehler und sein Kameramann Carl-Friedrich Koschnick jene Jahre als eine Mischung aus Trümmerfilm mit surrealen Melodram-Momenten, die direkt aus den Filmen von Douglas Sirk oder Todd Haynes entsprungen sein könnten.
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Als Klaus sich entschließt, Schriftsteller zu werden und Gisela, Tochter aus reichem Hause, kennenlernt, mischt sich dunkler Existentialismus in die Farbpalette des Films. Später werden Klaus und Gisela nicht nur Oskar in die Welt setzen, sondern sich auch gegenseitig das Leben zur Sartre-Hölle machen. Gisela Elsner erweist sich als literarisches Talent, die mit großem Ego und dem Roman „Die Riesenzwerge“ im Literaturbetrieb der frühen sechziger Jahre reüssiert. Roehler hatte dem Leben seiner exzentrischen Mutter bereits mit „Die Unberührbare“ ein filmisches Denkmal gesetzt. War er seinerzeit noch milde, so schildert er jetzt ihre gemeine Asozialität mit einem unerhörten Furor. Lavinia Wilsons Darstellung dieser Figur, immer am Rande der Hysterie, dabei stets kapriziös, gehört zu den Glanzlichtern dieses Films. In diese trübe Konstellation hinein wird Oskar geboren:, ein ungeliebtes und missachtetes Kind. Die Jahre des antiautoritären Aufbruchs schildert Roehler aus der naiven Perspektive eines Kindes, das verständnislos Zeuge der Lebensexperimente seiner Eltern wird. An den 68ern wird kein gutes Haar gelassen: die Generation der um 1960 Geborenen zeigt der Film als Opfer zweier Täter-Generationen, wobei die Nazi-Großeltern sich immerhin noch zu einer menschlichen Größe aufschwingen. Nachdem der Film über die Darstellung von Giselas Eltern noch Momente einer überkandidelten Schlagerfilm-Groteske in sich aufgenommen hat – allein der Auftritt von Margarita Broich lohnt das Eintrittsgeld! -, gilt der Rest des Films den Irrungen und Wirrungen des jungen Oskar zwischen Internat und erster Liebe, dargestellt in der Manier eines Jugendfilms, wie man sie in den siebziger Jahren zu Dutzenden im Fernsehen sehen konnte. Ungelenke Jugendliche mit seltsamen Frisuren und Brillen, die zu den Klängen von Lobos „I’d love you to want me“ versuchen müssen, einen Ort in der Welt zu finden.
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Trotz ein paar dramaturgischer Schwächen nimmt für Roehlers Ambition ein, dass seine Rekonstruktion von dreißig Jahren westdeutscher Geschichte stets subjektiv bleibt. Die großen historischen Momente, die solch einen Stoff üblicherweise strukturieren, also etwa das WM-Finale 1954, die Kuba-Krise, die Ermordung Kennedys, das Attentat auf Rudi Dutschke, die Mondlandung oder die RAF – all das sucht man hier glücklicherweise vergebens. Diese Freiheit und der Mut Roehlers, sich gerade nicht zur wertenden moralischen Instanz aufzuschwingen, macht „Quellen des Lebens“ zu einem großen Wurf. Dieser Haltung der gelassenen Milde entspricht sogar ein passender philosophischer Song: „Dust in the Wind“ von Kansas. Derlei pathetischen Kitsch hätte es bei Fassbinder nicht gegeben, bei Schlingensief vielleicht schon. Ironisch gebrochen, denn wie heißt es in „The Wizard of Oz“ so schön: „Well Toto, we’re not in Kansas anymore!“ Bedenkt man, dass es Roehler war, der die Rock’n’Roll meets Autoscooter-Geschichte „Lulu und Jimi“ bereits als Pastiche von „Wild at Heart“ anlegte und dass sich „Wild at Heart“ sich deutlich auf „The Wizard of Oz“ bezog, dann ahnt man, was Roehler mit „Quellen des Lebens“ im Sinn gehabt haben könnte. Oder nicht?
Zum Film gibt es hier auch ein Interview!