Der Geschmack von Rost und Knochen

(F 2012; Regie: Jacques Audiard)

Visuelle Drastik

Ali (Matthias Schoenaerts) ist ganz in der Gegenwart und im Körper verankert. Direkt und ohne Umschweife geht er aufs Leben los. Seine animalische Kraft und unbändige Energie verlangt nach einem spontanen Ausdruck. Dabei reagiert er völlig instinktiv, unkompliziert und auf seine Weise klar. Dass er in seinem Fühlen unsensibel, naiv und mitleidlos erscheint, gehört ebenso zu diesem Charakter wie sein furchtloses, gewalttätiges Handeln. Ali ist einer jener hartgesottenen Typen, die ihr Leben als permanenten Kampf führen, als bewegten sie sich durch die Gesellschaft wie durch eine rohe, wilde Natur. Sein Mangel an ziviler Anpassung führt zu einer permanenten Verletzung der sozialen Grenzen und Codes, in die er eingeschlossen ist, ohne sie zu reflektieren. Ali ist wahr, tabulos und ungezwungen, weil sein Körper die Regeln nicht kennt.

Eingangs von Jacques Audiards Film „Der Geschmack von Rost und Knochen“ („De rouille et d’os“), einem ziemlich forcierten Liebes- und Sozialdrama, sieht man ihn zusammen mit seinem 5-jährigen Sohn Sam von Belgien aus an die Côte d’Azur reisen. Die beiden trampen, fahren im Zug, ernähren sich von Abfällen und mittels kleiner Diebstähle. Audiard filmt Bewegungen, akzentuiert den Atem und lässt die Körper sprechen. Bei Alis Schwester Anna angekommen, entfaltet der Film einen sozialen Raum aus miesen Wohnverhältnissen, schlecht bezahlten Jobs, Beziehungslosigkeit und elterlicher Vernachlässigung. Physisch direkt und mit musikalischem Kleister, der die Suggestionen markant dosiert, inszeniert Audiard Alis Neuorientierung. Bald darauf lernt dieser als Türsteher einer Diskothek mit Namen „L’annexe“ die attraktive Stéphanie (Marion Cotillard) kennen, die in eine Schlägerei verwickelt ist.

Stéphanie trainiert im Marineland von Antibes Orca-Wale. Doch die erste Szene, die sie bei der Arbeit zeigt, kulminiert gleich in einer schrecklichen Katastrophe, bei der sie beide Unterschenkel verliert. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung arbeitet der französische Filmemacher immer wieder mit dramatischen Zuspitzungen, denen man nicht immer folgen will und deren Deutlichkeit oft von visueller Drastik flankiert wird. Nach dem Schock legen sich bei Stéphanie nur langsam schmerzliche Trauer und Entsetzen. Depressiv und einsam meidet sie das Licht, bis ausgerechnet Ali sie wieder in Kontakt bringt mit dem Leben. Er ermuntert sie zum Baden im Meer, begleitet sie in die Disco und beginnt mit ihr ganz unkompliziert, aber zunächst auch unverbindlich eine sexuelle Beziehung.

Offen und ungefiltert kontrastiert Jacques Audiard immer wieder Stéphanies Behinderung mit der sie umgebenden Realität und thematisiert dabei Vertrauen, Lebensmut und Versöhnung, die selbst noch den Wal einschließt. Doch bevor Ali, der in brutalen Kampfspielen seine Natur auslebt und dabei „dazuverdient“, die Flucht vor seinen Gefühlen aufgeben kann, muss er in der Logik des Films erst selbst zu einem Versehrten werden. Audiard strapaziert auf ambivalente Weise die Metapher der menschlichen Bestie, die nur gezähmt Heilung erfahren kann und dadurch zur Integration fähig wird. Die Mittel des Überwältigungskinos sind dabei seine nützlichen Assistenten.

Benotung des Films :

Wolfgang Nierlin
Der Geschmack von Rost und Knochen
(De rouille et d´os)
Frankreich 2012 - 120 min.
Regie: Jacques Audiard - Drehbuch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain - Produktion: Jacques Audiard, Martine Cassinelli, Pascal Caucheteux - Bildgestaltung: Stéphane Fontaine - Montage: Juliette Welfling - Musik: Alexandre Desplat - Verleih: Wild Bunch - FSK: ab 12 Jahren - Besetzung: Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Bouli Lanners, Tibo Vandenborre, Céline Sallette, Alex Martin, Corinne Masiero
Kinostart (D): 10.01.2013

DVD-Starttermin (D): 19.07.2013

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt2053425/