Man muss sich die aktuelle politische Praxis als eine Kette von Affekthandlungen vorstellen. Das Tempo der medialen Verwertungsmaschinerie gibt den Takt vor, der dem Personal gerade genug Zeit zum Reagieren lässt. Die politische Inszenierung beschränkt sich meist auf Ablenkungsmanöver oder Schadensbegrenzung, es herrscht ständige Alarmbereitschaft. Wer versorgt die Öffentlichkeit schneller mit einer unqualifizierten Meinung, welches unbedachte Statement gilt es als nächstes zu dementieren? Das Dementi ist das exemplarische taktische Manöver in der modernen Polit-Kommunikation, es beschreibt anschaulich die Ohnmacht der Mächtigen im Angesicht der freien Kräfte, welche die politischen Entscheidungsprozesse in Gang setzen. Aus der Gesamtheit der Dementis ergibt sich ex negativo ein repräsentatives Stimmungsbild des politischen Diskurses.
Damit ist die Dramaturgie von Pierre Schoellers Satire „Der Aufsteiger“ eigentlich schon auf den Punkt gebracht. In der Krisen-Kommunikation zählt nur die Wahrnehmung, heißt es einmal im Film. Schoeller gewährt einen nüchternen Einblick in die Mechanismen der Demokratie-Arbeit: am Beispiel eines kleinen Rädchens im Getriebe, das eine Verkettung glücklicher Umstände (Talent gehört nicht dazu, nicht einmal ein gehöriges Maß an Abgebrühtheit) auf die große Bühne der Politik befördert.
Bezeichnenderweise markieren zwei Verkehrsunfälle die entscheidenden Wendepunkte im beruflichen Werdegang von Bertrand Saint-Jean. Saint-Jean ist Minister für das französische Transportwesen – jede Krise des Verkehrs ist gleichbedeutend mit einem Scheitern seiner Politik. Er selbst bildet eine träge Masse, die erst unter äußerer Einwirkung beschleunigt. Seine politischen Standpunkte entspringen eher politischem Pragmatismus als ehrlicher Überzeugung. Warum er so vehement gegen die Privatisierung der französischen Bahnhöfe opponiert, weiß er wohl selbst nicht – man könnte es politischen Instinkt nennen. (Vielleicht aber auch nur Ressentiment, weil er den Kollegen aus dem Wirtschaftsministerium für ein aufgeblasenes Arschloch hält) Dass es nicht unbedingt Instinktes bedarf, um es in die Politik zu schaffen, demonstriert „Der Aufsteiger“ ganz wertungsfrei. Der französische Originaltitel „L’Exercice de L’Etat“, Staatsgewalt, legt dann auch weniger Fokus auf die persönliche Geschichte eines Mannes als auf den Machtapparat, den er repräsentiert und der ihn (ver)formt.
Zweimal kracht es in „Der Aufsteiger“ also. Das erste Mal wird Saint-Jean vom Klingeln des Telefons aus seinem nächtlichen Träumen gerissen; es ist eine sexuelle Machtfantasie sondergleichen und sie verschafft ihm einen ordentlichen Ständer. Dann die schlechte Nachricht: Unfall in den Ardennen, ein Bus mit Jugendlichen ist von der Straße abgekommen und in eine Schlucht gestürzt. Vermutlich keine Überlebenden. Kaum ist der Minister aus dem Bett, kursieren die Gerüchte, bereitet der Stab das erste Dementi vor. Um ihn herum tote Kinder und verzweifelte Eltern. Die Routinen der Selbstinszenierung (Saint-Jeans PR-Beraterin Pauline befindet sich ständig an seiner Seite), in der selbst angesichts des menschlichen Leids der professionelle Blick für den richtigen Krawattenfarbton nicht getrübt ist, werden von Schoeller ganz beiläufig im Modus höchster Betriebsamkeit eingefangen. Die Politik schläft nie; auch wenn sie träumt, ist sie noch mit sich selbst beschäftigt. Es spricht für die Aufmerksamkeit Schoellers, dass kaum eine Geste oder ein Dialog in „Der Aufsteiger“ unbedacht gewählt ist.
Bertrand Saint-Jean verkörpert eine Figur der politischen Zeitenwende, doch er ist umgeben mit dem Personal der Vergangenheit. Sein Stabschef Gilles, ein Politprofi alter Schule, verfügt über die Insignien der Macht sozusagen qua Geburt. Gilles ist Angehöriger einer altehrwürdigen französischen Politikerkaste, die Saint-Jean immer verschlossen bleiben wird. Dass er im Politklüngel ein Außenseiter ist, sehen die Alten trotz ihres Misstrauens gegenüber dem Emporkömmling als seine Stärke. Der Karrierist bedeutet keine Gefahr, doch der Mentalitätswandel ist unaufhaltsam.
Saint-Jeans Auftreten mangelt es entschieden an Eleganz und Würde. („Du hast kein Image, weil Du keine Geschichte hast“, erklärt ihm Pauline, „du bist verschwommen.“) Er stammt aus einfachen, groben Verhältnissen. Auch die Zeitungen vermuten hinter seiner Durchsetzungsfähigkeit, die eigentlich nur eine fortgeschrittene Form von Stoizismus ist, eine Residualeigenschaft seiner familiären Herkunft: den Bauern im Politbetrieb haut so leicht nichts um. Aber wovon träumt dieser Bauerntrampel nachts? Von nackten Mädchen, die in prunkvollen, von Kapuzenmännern bereiteten Zeremonien bereitwillig in den Schlund eines gefräßigen Monsters kriechen. Das Unbewusste manifestiert sich als diffuse Sehnsucht nach perversen Machtritualen. Fressen und Gefressen Werden – eine Lektion, die Saint-Jean auf die harte Tour lernt.
Das alles könnte Schoeller leicht als Farce inszenieren, doch er verliert nie seinen kühlen, unterschwellig amüsierten Blick für Machtdispositive im alltäglichen politischen Geschacher. Keiner der Protagonisten wird der Lächerlichkeit preisgegeben oder seiner Korrumpierbarkeit überführt; alle sind gleichwertig wichtige beziehungsweise bedeutungslose Akteure in einem fortlaufenden Prozess der Optionsevaluierung. „Der Aufsteiger“ gibt sich dafür, dass die performativen Akte des Sprechens und Herrschens eigentlich sehr statische Ausdrucksweisen sind, allerdings hochgradig mobil. Ähnlich wie Aaron Sorkin, der mit der US-Serie „West Wing“ das Walk-and-Talk zur verdichteten Kunstform politischer Performanz erhoben hat, zeigt Schoeller den Mobilisierungsgrad der Politik als permanente rhetorische und raumgreifende Manöver. Es gibt keinen Stillstand, „Der Aufsteiger“ ist das Gegenteil von drögem Polittheater. Großes Kino.
So ist es folgerichtig eine zweite Todeserfahrung, die Saint-Jeans Initiation einleitet. Dem sehr ansehnlichen Autounfall, der jeden Actionfilm schmücken würde, entsteigt ein neuer Homo Politicus; die alten biografischen Makel und politischen Verbindungen sind endgültig abgestreift. Der Premierminister persönlich überträgt Saint-Jean die Verantwortung für die Privatisierung der Bahn, das Projekt soll Frankreich den Weg in die Zukunft weisen. Resignation lässt sich der politische Pragmatiker keine Sekunde anmerken; er hat die unbändigen Kräfte der neuen Märkte zu spüren bekommen und lässt sich bereitwillig mitreißen. Ideologische Bedenken gibt es nicht, allenfalls die persönlichen Opfer erzeugen noch einen Anflug pathetischer Regung. „Politik ist eine Wunde, die niemals verheilt“, gibt Saint-Jean seinem treuen Gefährten zum Abschied mit auf den Weg.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/12