Man spürt die Skepsis und ein unterdrücktes Unbehagen in Germains (Fabrice Luchini) Blick, als der Rektor des Lycée Gustave Flaubert zu Beginn des neuen Schuljahres dem versammelten Kollegium verkündet, dass an dem fortschrittlichen „Pilot-Gymnasium“ zukünftig Schuluniformen getragen werden sollen, um die „soziale Heterogenität“ der Schülerschaft nach außen abzumildern. Der stramm kulturkonservative Literatur-Lehrer mit der ernsten Miene hat nämlich etwas gegen „Gleichmacherei“ und moderne psychische Empfindlichkeiten. Der transparente, offene Charakter des Schulgebäudes und der darin propagierte antiautoritäre, von gegenseitigem Respekt getragene Geist scheinen dieser Abwehrhaltung diametral entgegengesetzt. „Barbaren bevölkern die Klassenzimmer“, schimpft Germain gegenüber seiner Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas) nachdem er die Aufsätze seiner Zehntklässler gelesen hat. Und als Bettlektüre nimmt sich der kinderlose Pädagoge die französische Übersetzung („Malaise dans la civilisation“) von Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ vor.
François Ozon unterlegt auf einem Splitscreen die Vorspanntitel seines neuen Films „In ihrem Haus“ („Dans la maison“), der nach einem Theaterstück des spanischen Autors Juan Mayorga entstand, mit den vielzähligen, sich einander schnell ablösenden Gesichtern der uniformierten Schülerinnen und Schüler. Der Zeitraffer macht aus ihnen eine Masse und spitzt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft noch zu. Und just an dieser Stelle pickt sich Germain einen seiner Schüler heraus, um ihn in einer sich zunehmend komplizierenden Komplizenschaft zu fördern: Claude Garcia (Ernst Umhauer) ist ein begabter, aber sozial benachteiligter Schüler, der seinen Französischlehrer mit der Beschreibung eines Wochenendes überrascht, das der 16-Jährige im Haus seines Mitschülers Rapha (Bastien Ughetto) verbracht hat. Vor allem das regelrecht physische Eindringen in den „Familienleib“ der bürgerlichen Mittelschicht, das mit Claudes erotischem, auf Raphas attraktive Mutter Esther (Emmanuelle Seigner) gerichteten Begehren assoziiert ist, erregt Germains Aufmerksamkeit und literarische Lust.
Als Manipulator und Spiritus Rector befördert der Lehrer fortan die literarische Produktion seines Schützlings, begleitet kritisch und zugleich fasziniert die Fortsetzungen seines „Bildungsromans“ und treibt ihn dabei immer tiefer in die Intimität der Familie. Offensichtlich kompensiert Germain damit eigene literarische Defizite und private Frustrationen, die insgeheim auch sein Verhältnis zu seiner Frau widerspiegeln, die eine von ihm kritisch beäugte Galerie für moderne Kunst (Le Labyrinthe de Minotaure) betreibt. Germains Flucht vor dem eigenen Leben in die Phantasie seines Schülers, den er instrumentalisiert und literarisch ausbeutet, gewinnt dabei immer deutlicher selbstzerstörerische Züge. Und auch Claude dringt mit seinen Erlebnissen, Wünschen und Projektionen immer tiefer in den Körper der Ersatzfamilie ein.
François Ozon widmet sich auch in seinem aktuellen Werk der Erforschung familiärer Beziehungen, ihrer Störanfälligkeit und ihrem mythischen Gehalt. Überaus vielschichtig, ebenso künstlich wie kunstvoll vermischt der äußerst produktive französische Regisseur die unterschiedlichen Grade der Fiktion, wobei sich die erzählte Realität des Films und diejenige der literarischen Phantasie, von wechselnden Off-Erzählern zusammengeführt, einander immer mehr annähern, gewissermaßen ununterscheidbar werden. Die Bilder, ökonomisch organisiert und in einen Werkzusammenhang verweisend, folgen den Worten und transzendieren sie zugleich. Das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, Erfindung und Realität wird dabei ebenso thematisiert wie die Funktion von Literatur und Kunst. Auch wenn man aus ihnen vielleicht nichts lernen könne, bildeten sie doch den Sinn für die Schönheit der Dinge aus, sagt Germain einmal: „Menschen brauchen gute Geschichten.“ Am Schluss, vor den erleuchteten Fenstern eines Wohnblocks, blicken Lehrer und Schüler gemeinsam auf die vielzähligen parallelen Leben und Dramen, die sich (in Anknüpfung an den Vorspann) vor ihnen zeigen und die die erzählerische Phantasie beflügeln.