Frankreich zur Zeit der deutschen Besatzung: Am 20. Oktober 1941 erschießen kommunistische Widerstandskämpfer in Nantes den deutschen Offizier Karl Hotz. Hitler fordert daraufhin als schnelle Vergeltung die Hinrichtung von 150 Geiseln. Doch sein General Otto von Stülpnagel (André Jung) aus dem Hauptquartier im Pariser Hotel Majestic meldet Skrupel an: Er zweifelt gegenüber Hauptmann Ernst Jünger (Ulrich Matthes) nicht nur am Sinn einer solch willkürlichen Maßnahme, sondern rechnet als Folge auch mit einer unkalkulierbaren Eskalation der Gewaltspirale. In Berlin habe man „keinen Sinn für Geschichte.“ Zwar wird die Zahl der Todeskandidaten daraufhin reduziert; trotzdem sollen aus Internierungslagern in Nantes und Châteaubriant zunächst 50 politische Häftlinge zur unverzüglichen Exekution benannt werden. Unter ihnen befindet sich der erst 17-jährige Guy Môquet (Léo Paul Salmain), Sohn eines kommunistischen Pariser Abgeordneten, der wegen der Verteilung von antifaschistischen Flugblättern verhaftet wurde und heute in Frankreich (ähnlich den Geschwistern Scholl hierzulande) als Held des Widerstands verehrt wird.
In seinem neuen Film „Das Meer am Morgen“ („La mer à l’aube'), dem leider keine Kino-Auswertung beschieden ist (und der jetzt von Arte erstausgestrahlt wurde), verdichtet Volker Schlöndorff das tragische Geschehen zwischen Attentat und Hinrichtung auf drei Tage. Polizeiprotokolle, die Abschiedsbriefe der zum Tode Verurteilten, Pierre-Louis Basses Biographie über Guy Môquet („Une enfance fusillée“) sowie Ernst Jüngers wiederentdeckte Schrift „Zur Geiselfrage“, in der dieser die „Fälle und ihre Auswirkungen“ schildert, dienten Schlöndorff dabei als Quellen für seinen ebenso multiperspektivisch montierten wie analytisch erzählten Dokumentarspielfilm. Doch in Bezug zu den harten, unmenschlichen Tatsachen setzt er Geschichten von Individuen, von Menschen mit Gesichtern und Namen, die von der Zukunft träumen und sich verlieben. So entwickelt etwa Guy Môquet erste zarte Liebesbande zur Mitgefangenen Odette. „Unsere Zeit wird kommen“, sagt diese noch, kurz bevor ihr beider Glück unwiderruflich zerstört wird.
Schlöndorffs Film zeigt den schicksalhaften, von menschlicher Willkür und blindem Zufall unerbittlich zugespitzten Ablauf der Ereignisse als tragisches Geschehen. Egal wie man handle, man könne in dieser Situation nur das Falsche tun, sagt Otto von Stülpnagel einmal, während sich Jünger auf die Rolle des (literarischen) Beobachters und stolzen Soldaten zurückzieht. Trotzdem gibt der Film auch Einblick in eine Bürokratie von Befehlsempfängern, die der einbestellte Priester Moyon (Jean-Pierre Darrousin) gegenüber seinen Landsleuten kritisiert: Diese sollten nicht „Sklaven von Befehlen“ sein, sondern auf „ihr Gewissen hören“. Im psychischen Zusammenbruch des jungen deutschen Soldaten Heinrich (Jacob Matschenz), der gegen seinen Willen für das Hinrichtungskommando verpflichtet wird und den Schlöndorff einer Figur aus Heinrich Bölls Erzählung „Das Vermächtnis“ nachempfunden hat, ist ein Echo dieser menschlichen Forderung zu spüren. Doch sollte dies nicht als Entlastung von Schuld oder gar als Relativierung historischer Verantwortung gegenüber den Opfern missverstanden werden. Vielmehr ist Schlöndorffs Film neben der Darstellung eines für den antifaschistischen Widerstand in Frankreich bedeutsamen geschichtlichen Wendepunkts vor allem ein differenziertes Plädoyer für Humanität.