Als „Polyhistor“ bezeichneten die alten Griechen einen Universalgelehrten. Das Universum und das Wissen über das Universum waren damals noch überschaubar. Der Begriff wurde obsolet. Dennoch, ich wage es: Werner Nekes ist ein Polyhistor des kinematografischen Wissens aus dem Ruhrgebiet. Er wächst in den 50er Jahren in Duisburg-Hamborn, Oberhausen und Mülheim/Ruhr auf, studiert Sprachwissenschaft und Psychologie in Freiburg und Bonn, ist Leiter des studentischen Filmclubs und produziert ab 1965 eigene experimentelle Filme, zunächst auf 8mm, dann auf 16mm, sehr bald zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Dore O. 1968 ist er Mitbegründer der Filmmacher-Cooperative und der Hamburger Filmschau. Mit Dore O. dreht er den 10minütigen Experimentalfilm 'jüm-jüm', in dem er über Montage nachdenkt; man sieht Dore O. auf einer Schaukel sitzend, sie bewegt sich vor einem gemalten überdimensionalen Phallus hin und her, in einem mathematisch ausgeklügelten Rhythmus.
1968 sah ich erstmals einen Nekes-Film in Oberhausen und war fasziniert – das war 'Kelek', ein Stummfilm, der das Blicksubjekt hinter ein vergittertes Kellerfenster verbannt, durch das man auf eine Straße und Menschen sieht. Nekes erhält Filmpreise, wird Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und an der Kunsthochschule Offenbach – vor allem aber wird er als Sammler berühmt, er sammelt alles zur Prähistorie der Kinematografie: optische Spielzeuge des 19. Jhs., Medien wie die Laterna Magica, panoptische Geräte und vieles mehr.
Das Ruhrgebiet, optische Spielzeuge, magische Medien – damit sind wir schon im Zentrum seines Films 'Uliisses', den er in den Jahren 1980 bis 1982 gedreht hat. 'Uliisses' ist einer der ganz wenigen deutschen Avantgardefilme, die nach 1945 bis heute entstanden sind. Man müsste sich den Film mindest dreimal hintereinander ansehen: Das erste Mal, um sich von seinen Sprüngen und Übersprüngen verwirren zu lassen und ratlos zurück zu bleiben. Ein zweites Mal, um seine ästhetische Raffinesse, die radikale Schönheit vieler seiner Bilder zu genießen. Ein drittes Mal schließlich, um dessen gewahr zu werden, dass uns dieser Film auch eine Geschichte erzählt, dass er Unterhaltungswert hat und nicht nur Witz, sondern auch viele unglaublich komische Momente.
'Uliisses' ist eine Collage, ein äußerst präzis angelegtes Netz aus Bildern, die unterschiedlichsten Filmtechniken entstammen – und er ist ein Amalgam, eine Verknüpfung von Homers 'Odyssee' und James Joyce’ 'Ulysses'. Eingelagert sind Theaterszenen aus dem 24-Stunden-Stück 'The Warp' des englischen Autors Neil Oram, mit dessen Schauspielern Nekes in England zusammen gearbeitet hat. Mit Homer begann alles Erzählen in der europäischen Kulturgeschichte, und mit Joyce beginnt das Erzählen in der Moderne. Der Ulisses der Odyssee – oder der Leopold Bloom von James Joyce – ist in diesem Fall Uli, ein Fotograf, der von Dublin in die Heimat reist; sein Ithaka ist ein halb marodes Ruhrgebiet düsterer Fördertürme, grauer Autobahnen und schrundiger Brandmauern. An seiner Seite: Telemach alias Phil, er entstammt Neil Orams Stück „The Warp“. Seine Penelope oder seine Molly Bloom ist das Model Tabea Bloomenschein, die vom ganz großen Film, von Hollywood träumt. Die von Homer bekannten Episoden – von Calypso über die Sirenen, Eumäos und Helios bis zur Heimkehr nach Ithaka – strukturieren den Film durch eingeblendete Zwischentitel und gönnen uns insoweit eine gewisse Orientierung, ebenso wie die Anspielungen auf den epochalen Roman von Joyce. Sie mobilisieren unser literarisches Gedächtnis – gleichzeitig setzen sie die Literarisierungen dem Bilderhagel aus Nekes‘ Filmmaschine und damit einer Um- und Neuinterpretation aus. „Lighterature“, „Lichteratur“ nennt Nekes selbst sein Amalgam aus ‚Lichtspiel’ und Literatur.
Doch damit nicht genug. Allein auf der Ebene der Filmgenres durcheilen wir das gesamte Repertoire des Kinos: von der Slapstick-Groteske über das Roadmovie bis zum Agentendrama, vom abstrakten Film der 20er Jahre über den Industriefilm bis zum Pornofilm. Die Genrevielfalt dient keinem Selbstzweck. Nekes verwebt die Genreanspielungen und Genregrenzen sowohl mit dem Stoff der erzählten Geschichte als auch mit seiner subtilen Filmgrammatik, seiner Philosophie des Sehens. Dieses Verweben und Verknüpfen, das wechselseitige Durchdringen von Motiven, literarischen und filmischen Techniken gilt auch für die zahlreichen Zitate aus der Filmgeschichte mit ihren großen Figuren, Mythen und Klischees: Blitzartig, oft durch doppelte und dreifache Überblendung verrätselt, begegnen wir einem Zitat aus 'Casablanca', der Cathérine Deneuve aus 'Belle de Jour', dem gespreizten Gang von Groucho Marx und der Einfahrt des Zuges von Lumière – jenem Urknall, mit dem angeblich die Geschichte des Kinos begann.
Als ich den Film nach vielen Jahren wieder sah, ging mir ein Dreiklang aus Wörtern nicht aus dem Kopf, sie belegen auch die Schönheit und Genauigkeit der französischen Sprache: Voyer – voyeur – voyage. In Nekes’ Film geht es, in erster und letzter Instanz, um das Sehen und Sehen-Können; um das Sehen-Wollen und die Seh-Lust; um Wahrnehmen und Reisen, auch um eine Reise in das Innere des Sehvorgangs als einer Leistung unseres Gehirns. Dietrich Kuhlbrodt hat mit Recht festgestellt, Gegenstand dieser Odyssee sei „die Bildsprache selbst: das Sehenlernen und das Sehenwollen.“ Werner Nekes ist Zauberer und Erfinder, ein Archäologe, der in seiner Werkstatt von den präkinematografischen Attraktionsmaschinen bis zur Computersimulation alle Werkzeuge nutzt, um „die Welt als kinematographisches Vexierbild“ nachzubauen. Es sieht so aus, als teste er die gesamte Geschichte der künstlichen Seh-Maschinen noch einmal durch, um dem Geheimnis der bewegten Bilder auf die Spur zu kommen: die Spiegelbilder des Barock, rotierende Spiegel, die Stereo-Effekte der frühen Fotografie und die Cinemascope-Künste des Kinos, die Holografie, die Bildzeilen des Fernsehens, schließlich die computergesteuerte Bildschaltung, das Polaroidfoto und den Laserstrahl.
Bazon Brock beschreibt in seinem langen Essay über diesen Film, wie Nekes die Funktionsweise des Thaumatrops, eines Spielzeugs aus dem 19. Jahrhundert, rekonstruiert, einer wahren „Wundermaschine der Bilderzeugung“: „Die Abbildung zeigt einen Mann und eine Frau in einer allseits bekannten Berührungsform. Die Berührung wird auf dem Spielzeug selbst gar nicht dargestellt, sondern entsteht erst in der Wahrnehmung des Betrachters, sobald das Metallplättchen um seine Achse mit hinreichender Geschwindigkeit rotiert. Dann verschmilzt die auf der Vorderseite dargestellte männliche Figur mit der auf der Rückseite dargestellten weiblichen Figur zum Paar. Auf diesem Verschmelzungseffekt von bewegten Bildern, die durch ein Nichtbild, einen Grenzstreifen, eine Schwarzphase oder ähnliches vonei-nander getrennt sind, beruht die gesamte Wunderwelt des Films.“
Beeindruckend ist der Schluss des Films. Uliisses tötet die Freier Penelopes bzw. Tabeas mit Hilfe der Fotografie, er schießt auf sie mit seiner Kamera, bannt sie im Bild. Das Bild aber zerfällt zu Staub, zu Nachbildern aus phosphoreszierendem Pulver. Das letzte Bild ist eine alte Lithographie von Odysseus’ Heimkehr nach Ithaka, die in wechselnder Beleuchtung als fotografisches Negativ oder Positiv erscheint.
'Uliisses' ist ein Schwellenfilm, genauer: ein Film, der um 1980 an einer Umbruchstelle entstanden ist. Das elektronische Bild hatte die technische Grundlage der Bildproduktion radikal verändert. 'Uliisses' ist noch ein Kinofilm, aber er stellt sich dem Fernsehen und bezieht, in einer sehr markanten Szene, die Fernsehtechnik in seine Bilderwelt ein. Heute, mehr als 30 Jahre später, können wir hinzufügen: 'Uliisses' steht auch an einer Schnittstelle zwischen den analogen und digitalen Medien. Nekes bedient sich bereits des Computers als eines technischen Hilfsmittels – die neuen imaginären Welten, die heute die digitalen Techniken ermöglichen, sind hier schon zu erahnen, aber sie werden noch mit analogen Techniken evoziert.