Es gab eine Zeit, da suchte man den „American Dream“ allen Ernstes in der Wüste. Die Wüste war die letzte Front der Pioniere, die es noch zu erobern galt. Kalifornien, der gelobte Westen, war längst aufgeteilt. Über diese Landnahme in den dreißiger Jahren gibt es auch einen sehr guten Kinofilm: Roman Polanskis „Chinatown“, der Jack Nicholson zum Star machte. „Chinatown“ handelte von der Verteilung der südkalifornischen Wasservorräte, die zur Besiedlung des Umlands von Los Angeles von entscheidender Bedeutung waren. Wer das Wasser besaß, hatte die Macht. In der Wüste dagegen standen sich die Bodenspekulanten noch nicht gegenseitig auf den Füßen. Die Mafia machte den Anfang. Mitten in der Wüste von Nevada entstand Las Vegas, das in den Fünfzigern zur Boomtown wurde: nah genug am Sehnsuchtsort Kalifornien mit seinen Palmen und Sandstränden, aber mit einem ganz speziellen, artifiziellen Glamour aus Plastikpyramiden, Casinotempeln und dem Ruch des organisierten Verbrechens.
Der Saltonsee, knapp 400 Kilometer südlich von Los Angeles, hat eine ähnlich bewegte Vergangenheit, nur dass der amerikanische Traum hier keine Erfolgsgeschichte schrieb. 1905 brachten schwere Regenfälle den Colorado River zum Überlaufen, so dass ein riesiges Binnengewässer mitten in der Wüste entstand. In den Fünfzigern entdeckten clevere Investoren den Saltonsee als Ausflugs- und Urlaubsziel gestresster Großstädter. Hotelanlagen und Casinos schossen an der „neuen Riviera“, so die damalige Werbung, aus dem Boden. Bald drückten sich auch die Berühmtheiten aus Las Vegas und Los Angeles die Klinke in die Hand.
Über diese Landnahme gibt es jetzt auch einen Film – es ist jedoch kein Krimi geworden, sondern eine Art Dokumentation, ein Sozialdrama oder auch ein filmischer Wachtraum. Die Farben und Texturen von „Bombay Beach“ sind so ausgewaschen und blass, daß sie geradezu unwirklich erscheinen – als wären Landschaft und Figuren allein vom Sonnenlicht konturiert.
Einen ähnlich zerbrechlichen Eindruck hinterläßt auch Bombay Beach, ein ehemaliges resort an den Ufern des Saltonsees. Vom Glanz der Fünfziger und Sechziger ist nichts geblieben. Heute ist der Salzgehalt des Sees so hoch, daß an seinen Ufern täglich große Mengen toter Fische angespült werden. Die Feriensiedlungen sind verfallene Geisterstädte, ein Monument des Scheiterns. Die israelische Filmemacherin Alma Har’el, die unter anderem für ihre ätherischen und hypnotisch verrätselten Musikvideos für Sigur Rós, Beirut und Jack Penate bekannt ist, verschlug es vor drei Jahren durch Zufall an diesen unwirtlichen Ort. Ursprünglich hatte sie einen Drehort für ein Musikvideo gesucht. Die Menschen, die dort am Rande der Gesellschaft leben, hinterließen auf die Filmemacherin jedoch einen so starken Eindruck, daß Har’el gleich mehrere Monate blieb.
Drei Menschen haben es ihr besonders angetan. Der achtjährige Benny Parrish, der unter einer bipolaren Störung leidet, ist das emotionale Zentrum des Films. Die Eltern wissen mit seiner Krankheit nicht anders umzugehen, als den Jungen mit Medikamenten vollzupumpen. Seine Arztbesuche gehören zu den Routinen im Film. Benny weiß, daß er anders ist als die Kinder, mit denen er in den Ruinen von Bombay Beach spielt, obwohl er den Unterschied nicht versteht. “Bin ich verrückt?” fragt er seine Mutter einmal.
Die Parrishs sind ohnehin ein Fall für sich. Der Vater hatte Ende der Neunziger eine kleine Wehrsportgruppe, die sich in der Wüste ausgefeilte Scheingefechte lieferte. Als das Jugendamt eines Tages vor der Tür stand, entdeckten die Behörden im Garten Sprengsätze und Waffen. Es war ein Jahr nach 9/11, die Eltern wanderten wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung für zwei Jahre ins Gefängnis, der damals drei Wochen alte Benny landete im Waisenheim. Heute sitzt der Vater stumpf in seinem Fertighaus; außer Biertrinken und Rumballern weiß er mit seiner Zeit nichts anzufangen. Viel mehr hat Bombay Beach allerdings auch nicht zu bieten.
Eine andere Geschichte handelt von CeeJay. Er ist zu seinem Vater nach Bombay Beach geflüchtet, nachdem sein Cousin bei einer Gangschießerei in Los Angeles ums Leben gekommen war. Dass ein Jugendlicher ausgerechnet an diesem gottverlassenen Ort seinen Traum (von einem College-Stipendium) verwirklichen will, sagt einiges über die gesellschaftlichen Zustände in Amerika aus. Und dann ist da noch der fast 80jährige Red. Er hat die Große Depression und einen Weltkrieg überlebt, um seine letzten Jahre in einer kleinen Siedlung von Aussteigern und Freaks zu fristen. Um sich finanziell über Wasser zu halten, kauft er im nahe gelegenen Reservat steuerfrei Zigaretten an, die er an die Bewohner von Bombay Beach weiterverscherbelt. “Die Wüste hat mit niemandem Mitleid”, erzählt er mit Granitstimme aus dem Off. ”Du mußt improvisieren, um zu überleben.”
Reds Worte sind auch eine treffende Beschreibung seines Landes. Der US-Independentfilm hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter von den Metropolen entfernt, um ein Amerika zu zeigen, das mit der Realität in den Abendnachrichten nur noch wenig gemein hat. Har’el schneidet mit ihrem Film in ein Segment der US-Demographie, das weitestgehend vergessen wurde. Doch belässt sie es nicht bei einem trockenen Sozialrealismus, wie er im Independentkino gerade verstärkt zu beobachten ist, sondern entwickelt einen traumhaften Collagenstil, der die Bewohner von Bombay Beach nicht zu Objekten einer Sozialstudie degradiert, sondern sie als Subjekte einer selbst geschaffenen Realität ernstnimmt. Zusammen mit den Kindern hat Har’el einfache, berührende Tanz-Choreografien entworfen, die den harten Realismus ihrer Bilder immer wieder mit surrealen Spielsequenzen aufbrechen. So scheint es in manchen Momenten, als wäre Terrence Malick den Menschen von Bombay Beach in der Wüste erschienen. Der unscharfe, verschleierte Akustik-Folk von Beirut tut sein Übriges.
Im amerikanischen Kino lassen sich nur wenige Vorläufer von Har’els Stil finden: etwa Charles Burnetts „Killer of Sheep“ (1975) oder David Gordon Greens „George Washington“ (2000). Filme über Kinder, die die Wohlstandsruinen der Elterngeneration gezwungenermaßen in einen Abenteuerspielplatz verwandeln. “Bombay Beach” besteht aus nicht viel mehr als Licht, Tanz und Spiel (die Kinder vergnügen sich mit angespültem Schrott, die Eltern mit Waffen). Dahinter verbirgt sich kein gesellschaftlicher Kommentar, auch wenn der Film genügend Facetten des Lebens unterhalb der Armutsgrenze abbildet. Har’el geht es vor allem um ehrliche Anteilnahme und liebevolle Wertschätzung. Dass das Kino der Politik diese Aufgaben inzwischen abgenommen zu haben scheint, ist das eigentlich Deprimierende an der Geschichte von Benny, CeeJay und Red.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 10/12