Die Geräuschkulisse kommt vom Meer. Möwenschreie und eine Schiffssirene sind zu hören, als sich ein offensichtlich blinder Mann von seinem Bett in einem düsteren Hotelzimmer erhebt und sich entlang einer Wand tastet. Plötzlich entdeckt er eine Tapetentür aus Baum-Mustern, öffnet sie mit einem Schlüssel und betritt einen Kinosaal, in dem das anwesende Publikum seltsam erstarrt und leblos wirkt. Ein kleiner nackter Junge, der Stummfilm-Leinwand entsprungen, huscht durch den Mittelgang. Zwischen Traum und Realität bewegt sich der neue, seit langem ersehnte Film von Leos Carax. „Holy Motors“ ähnelt einer bewegenden Reise durch die Genres und Stile des Kinos, seine Geschichte und Geschichten, hin zu den großen Themen, die sich um das Verhältnis von Leben und Kunst, Liebe und Tod drehen. Dabei skizziert der französische Regisseur, der sich im Prolog in der Rolle des somnambulen Blinden selbst inszeniert, auch ein Selbstportrait des Filmkünstlers angesichts einer sterbenden Kinokultur.
Gegen diesen schleichenden Tod betreibt Leos Carax ein höchst phantasievolles und sinnliches Spiel mit Masken und Verkleidungen, indem er sein Alter Ego Monsieur Oscar (Denis Lavant) als Verwandlungskünstler auf einen Trip durch Paris schickt, das so zu einer Mitspielerin wird. In einer weißen Stretchlimousine, die von seiner Assistentin Céline (Edith Scob) gelenkt wird, gleitet er von Station zu Station. Der schwerfällige, wie aus der Zeit gefallene Luxuswagen, dient ihm dabei als Büro, Fundus und Rückzugsort. Hier empfängt Monsieur Oscar die Aufträge und Termine eines unsichtbaren Auftraggebers, hier wechselt er die Kleider und Masken, um in immer neuen Rollen fremde Leben zu spielen und seine Identität in wechselnden Persönlichkeiten aufzuspalten, bis das Leben selbst zur Kunst wird und der Traum zur Wirklichkeit.
Die Lust an der Verwandlung und die Bewegung als Motor der Geschichte verleihen „Holy Motors“ Flügel, funkelnde Ideen und einen dunklen Witz. In Denis Lavant treffen sie überdies auf einen kongenialen Performer, der sich regelrecht häutet, vom Geschäftsmann zur alten Bettlerin, vom Katzenmenschen in Latex zum Auftragskiller und vom Liebenden zum Sterbenden mutiert. Dabei ist er zugleich Täter und Opfer, Vater und Kind, vor allem aber ein Künstler, der für die Wahrheit streitet und die Schönheit verteidigt. Als Monster aus der Unterwelt entführt der die Schöne (Eva Mendes), um sich später mit ihr zu einer Art Pietà zu gruppieren. Als Vater, der von den Lügen seiner pubertierenden Tochter enttäuscht ist, verkündet er: „Deine Strafe besteht darin, du selbst zu sein und damit leben zu müssen.“ Gegenüber seiner früheren, verlorenen Geliebten (Kylie Minogue) wiederum konstatiert er: „Die Zeit arbeitet gegen uns.“ Und über der Leiche des ermordeten Bankiers ruft er aus: „Ich verbiete euch zu lügen!“ So produziert der Kampf des „Einen“ gegen die „Vielen“ Sätze, die in gewisser Weise für alle gelten.