Michael Haneke („Das weiße Band“) fragt, was das ist, Liebe zwischen Menschen, die alt geworden sind. Realität ist, dass sich immer mehr Gewissheit aufdrängt: es geht aufs Ende zu. Normalerweise fassen wir den Tod ungern ins Auge. Auch gibt es eine Schwelle, deswegen ins Kino zu gehen. Hanekes „Liebe“ aber ist ein großartiger Kinofilm, und er garantiert ein neuartiges, grandioses, nachwirkendes Kinoerlebnis. Auf den Festspielen in Cannes bekam „Liebe“ die goldene Palme.
Was passiert im Film? Zunächstmal: es wird dem Zuschauer nichts erzählt. Es gibt kein Plot. Aber es wird beobachtet. Im großen Ganzen bleiben wir die volle Kinolänge in einem Zimmer und beobachten zwei Alte. Jean-Louis Trintignant ist mittlerweile achtzig Jahre alt, Emanuelle Riva 85. Protokolliert wird der sich verändernde Zustand vom Leben zum Tod. – Das klingt jetzt so, als ob wir alle ganz traurig werden müssen. Vielleicht ist das sogar der Fall. Das Besondere aber ist, dass der Film von Zärtlichkeit erfüllt ist. Zärtlich gehen die beiden Alten miteinander um, und zärtlich geht der Regisseur mit seinen Protagonisten um. Der Film „Liebe“ ist auch ein Film über die Liebe des Regisseurs zum Film.
Eine Rolle spielt, dass die Alten altbekannt sind. Seit den fünfziger Jahren treten sie in Filmen auf. „Verliebt in scharfe Kurven“ (Trintignant, 1962), „Hiroshima, Mon Amour“ (Riva, 1962). Gebrechlich und dem Tode nahe, werden sie uns jetzt in „Liebe“ vorgeführt – mit allem Respekt und ihrer Würde belassen. In der ersten Filmeinstellung, noch vor dem Filmtitel, sehen wir Riva im Bett liegen, entspannt, unbeweglich. Tot? Auf dem Kopfkissen sind die Blüten abgeschnittener Blumen wie Sterne drapiert. Polizei kommt. Es ist etwas geschehen. Aber was? Nächstes Bild. Die beiden Alten sind frisch und munter in einem Konzertsaal zu sehen. Franz Schubert. Eins der Impromptus aus dem Opus 90. Aha, die beiden sind oder waren Musikprofessoren. Ihr Schüler ist berühmt geworden.
Riva sitzt am Frühstückstisch, starren Blicks, abgeschaltet. Eine Absence? Ein Schlaganfall. Trintignant übernimmt die Pflege in der Wohnung. Er verspricht, sie niemals in ein Heim oder in die Klinik zu überweisen. Es gibt was zu tun. Viel. Das Bettlaken ist nass. Urin? Er zieht ihr eine Unterhose hoch. Hat er sie gewaschen? Er wäscht ihr die Haare. Sie fährt im Rollstuhl im Kreis herum. Beide lachen. Dann der zweite Schlaganfall. Die Tochter reist an (Isabelle Huppert). Sie denkt praktisch. Der Vater ist doch völlig überfordert. Die Mutter müsste klinisch versorgt werden. Der töchterliche Blick wandert in der Wohnung herum. Dann erzählt sie der Mutter eine lange Geschichte, wie schwierig es ist, eine Wohnung zu finden, aber es wird schon werden. Von Empathie kaum eine Spur, von Zärtlichkeit auch nicht. Ganz der gesunde Menschenverstand. Denken alle Töchter so? Ja?
Haneke antwortet nicht. Er stellt Fragen. Stellung nehmen, bewerten, ablehnen, sich entrüsten, mitfühlen, sich erinnern, – all das muss der Zuschauer selbst tun, und das Ergebnis wird unterschiedlich sein. „Liebe“ ist ein sich intensivierendes Wahrnehmungs- und Rezeptionserlebnis an Hand präziser Fakten und detailreicher Beobachtung. Ich sags laut: Der Film hat mich aufgewühlt – im guten Sinne. Oder sensibilisiert, – aber das klingt zu abgegriffen. Oder: er implodiert in mir, – aber das klingt zu pathetisch. Hanekes Geheimnis ist, dass mit der der Protokollierung der Details des Sterbenmüssens so etwas wie Wahrheit entsteht. Und Normalität. Genial sind die Einschübe von Bildgeschichten, die sich erst im Laufe des Films entschlüsseln lassen. Wieder ist es am Zuschauer, die Codes zu knacken. Wieder wird zur aktiven Rezeption eingeladen.
Als zehnjähriger Junge, so erzählt er der Dahingehenden, war ich in einem Schullandheim. Mit der Mutter war ein Code ausgemacht. Schickt der Junge Postkarten mit Blumen drauf, ist alles okay. Mit Sternen: hol mich hier raus. Hört Riva, die nichts mehr artikulieren kann, überhaupt zu? Versteht sie, von was er erzählt? Ihr Gesichtsausdruck entkrampft sich. Sie wirkt jetzt entspannt. Lächelt sie nicht sogar? Und waren in der Eingangssequenz des Films nicht Blumen, Blumenköpfe, um ihr so wunderschön entspanntes Gesicht drapiert? Oder waren sie wie Sterne angeordnet? Hatte sie nicht vorher im Film gesagt, als sie noch was sagen konnte, dass sie weg will, weg aus dem unerträglich gewordenen Leben? Immerhin hatte er aus ihrem Lallen erraten, was sie mit ihm singen wollte. Und dann singen die Musikprofessoren „Sur le pont d’Avignon“. Und lächeln sich an.
Jetzt aber, schlussendlich, ist Zeit zu gehen. Wenn Liebe heißt, für einander zu sein, muss das nicht auch für das Fortgehen miteinander gelten? Wohlgemerkt, der Film formuliert die Fragen nicht. Die Bilder, die Codes, provozieren aber Antworten des Zuschauers. In einer eingefügten Szene wird für dieses Gehen ein nüchternes, alltägliches, normales Bild gefunden. Die Wohnungstür öffnen. „Ja, willst Du denn nicht den Mantel anziehen?“ Der Mantel wird angezogen. Die Tür klappt zu. – Lieber Leser, ob Du das glaubst oder nicht. Ich versichere, dass diese Szene eine der größten und unvergesslichsten der Filmgeschichte ist.
Okay, jetzt glaubt mir sowieso keiner mehr diesen Überschwang. Cool ist das ja nicht grade. Aber es ist mir egal. Es ist mein Ding, vom Film mitgenommen zu werden und, ja, wirklich zu werden. Denn „Liebe“ ist ein Film, der sich der angesagten Entwirklichung in den Medien entgegensetzt, sozusagen ein erratischer und individueller Fels inmitten der digitalen Brandung um uns herum. Dank Haneke hab ich Wirklichkeit unter den Füßen und Emotionen im Kopf, und die hab ich hier rausgelassen, hier, eine volle Seite in „Konkret“. Bestimmt gibt es andere Wahrnehmungen.
„Ein Horrorfilm“, sagte in der Pressevorstellung einer von der jüngsten Generation. Schnief, machten andere und zückten ein Tempotaschentuch. Glänzende Augen hatten viele und verließen das Kino in sich gekehrt. Ich machte mir Sorgen. Wie schreib ich über „Liebe“? Gewohnt ironisch/spöttisch? Nö. Autobiografisch? Allemal. Immerhin werde ich dieses Jahr ja auch achtzig. Und mit Brigitte bin ich mir einig.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 09/2012