Hat es das tatsächlich gegeben? Diese Frage stellt sich angesichts der Aufnahmen von Skateboard fahrenden Jugendlichen Ende der 1980er Jahre am Alexanderplatz in „This ain’t California“, der bereits auf der diesjährigen Berlinale für Aufsehen sorgte. Und schon finden sich entsprechende Kommentare zum Film im Internet, in denen Erinnerungen an Rollbrettfahrer ausgetauscht, gesucht oder auch imaginiert werden. Das Großartige an „This ain’t California“ ist deshalb, dass der Film, neben der Entwicklung des Rollbrettfahrens in der DDR und der Anbindung an das Bild des (Leistungs)Sports sowie der permanenten Verquickung von Privatem mit Politischem im Angesicht der vollkommenen staatlichen Überwachung, ganz nebenbei die Frage nach der Konstruktion von Erinnerung an die DDR stellt.
Im Zentrum des Filmes steht, nach einem furios montierten Prolog, der bereits den Kontrast von staatlich kontrollierter sportlicher Betätigung und freiheitlicher Subkultur eröffnet, die Geschichte einer Freundschaft: In der Betonwüste eines Vorortes von Magdeburg trifft Dennis Paracek eines Tages auf Nico und Dirk. Zusammen bauen sie erste Skateboards aus Rollschuhen und alten Holzplatten und üben mithilfe eines Fahrradschlauches erste Tricks. Später in Berlin werden die Freunde Teil der dort ansässigen Skaterszene. Für Dennis ist das Rollbrettfahren jedoch mehr als nur ein Zeitvertreib. Für ihn ist es die Chance, sich der Autorität des Vaters, der aus Dennis einen Leistungsschwimmer machen will, entziehen zu können. Schnell bringt ihm seine Art der Autoritätsverweigerung den Spitznamen „Panik“ ein, was die Staatssicherheit auf den Plan ruft. An dieser Stelle zeigt der Film die verzweifelten Versuche eines Staates in der letzten Phase seines Bestehens, der Subkultur durch Eingliederung in den staatlichen Sportapparat entgegen zu wirken, sein Scheitern und die darauf folgende ungezügelte Repression. Zur Zielscheibe dieser Repression wird „Panik“. 20 Jahre später treffen sich die Freunde wieder und tauschen Anekdoten über diese Zeit und ihren Freund „Panik“ aus, denn der Anlass des Treffens ist der Tod von Dennis, denn die nach Freiheit strebende Hauptfigur wird auch in der vereinigten Republik keinen Fuß vor den anderen bekommen und schließlich in Afghanistan als Bundeswehrsoldat im Einsatz ums Leben kommen.
Getragen wird diese vielschichtige Erzählung von Archivaufnahmen der DDR, Super-8-Material der Skater, vielen Interviews, wunderbaren Schwarz-Weiß-Animationen, die wichtige Stationen des Lebensweges von Dennis nachzeichnen und einem ergänzenden Off-Kommentar in Form einer Erzählerstimme. Der musikvideoclipartigen Montage gelingt es dabei, sich nicht in ihrer Hochgeschwindigkeitsästhetik zu verlieren, sondern immer nah an den Figuren und dem zu Erzählenden zu bleiben. Der hervorragende Soundtrack, die außergewöhnliche Montage und die sensible Ton-Mischung verbinden das Bildmaterial zu einer äußerst lebendigen Erinnerungscollage, die das Lebensgefühl Jugendlicher im sich auflösenden DDR-Staat kraftvoll transportiert.
Aber hat es das tatsächlich gegeben? Selbst im Abspann des Filmes gibt es keinen Hinweis auf den Schauspieler Kai Hillebrandt, der 2011 sein Spielfilmdebüt in „Swans“ (Regie: Hugo Vieira da Silva) gegeben hat und hier die Rolle des Dennis Paracek übernimmt. Auch dass David Nathan (Synchronsprecher u. a. von Christian Bale und Johnny Depp) tatsächlich bester Kumpel von Dennis gewesen sein soll, ist eher unwahrscheinlich, zumal er im Film einen anderen Namen trägt. Vieles an „This ain’t California“ muss also nachgestellt oder einfach frei erfunden sein. Das lässt sich mit „Verschleierungstaktik“ oder „Pseudo-Doku“ umschreiben. Man kann sich schlimmstenfalls auch einfach verschaukelt fühlen (wie Susanne Burg vom Deutschlandradio Kultur) und die Konstruktion des Filmes nicht weiter hinterfragen.
„Die Geschichte von Dennis‘ Leben mit uns beginnt eigentlich mit einer Legende. Die hat er selber erfunden. (…) Er selber hat immer darauf bestanden, dass das genau so passiert ist – wie in einem Traum.“ In diesen Sätzen, mit denen die Hauptfigur eingeführt wird, deutet Regisseur Marten Persiel nicht nur das schwierige Verhältnis von Erinnerung und Wirklichkeit im Film an. Besonders in Bezug auf die Erinnerungen an die DDR scheint es tatsächlich oft so, als wäre das, was in der DDR passierte, nicht ganz real gewesen und der Fall der Mauer wird nicht selten als Symbol für das Erwachen aus einem Albtraum begriffen. Mit diesem Erwachen werden auch die Erinnerungen an den SED-Staat einer Neubewertung unterzogen, weil die Beziehung zur eigenen Vergangenheit im Angesicht des anderen deutschen Teilstaates eine Neudefinition erfährt. „Es war nicht alles schlecht' ist in dieser Situation die größte anzunehmende Verteidigungsstrategie der aus den angenommenen Wahrheiten heraus geworfenen Menschen gegenüber dem gescheiterten Staat. Und weil mit dem Ende der DDR die Frage nach der Wirklichkeit und Richtigkeit des Gelebten gestellt wurde, diese gelebte Wirklichkeit erst entwertet und später neu erfunden wurde, darf Marten Persiel in seinem Film (scheinbar) Dokumentarisches ebenfalls erfinden, nicht auf diesen Umstand hinweisen und so sein historisches Spiel mit dem Zuschauer treiben. Am Ende ist die Veränderung und Erfindung von Erinnerungen mindestens genauso wahrhaftig wie jeder vermeintlich puristische Dokumentarfilm. Und darauf kommt es an. Denn es ist vollkommen gleich, ob die Hauptfigur erfunden oder aus mehreren Lebensläufen zusammengesetzt ist. Dennis steht nicht zuletzt auch als Symbol für die als traumatisch empfundenen Anpassungsschwierigkeiten von Menschen in einer Zeit des vollkommenen Umbruchs.
Mag also sein, dass „This ain’t California“ durch seine Konstruktion ein Zerrbild der tatsächlichen Ereignisse liefert und von dokumentarischer Authentizität nicht im Ansatz mehr die Rede sein kann. Aber abgesehen davon, dass Erinnerungen immer Zerrbilder darstellen, ist gerade in Bezug auf die DDR Erinnerung einer (absichtlichen) Verzerrung unterworfen gewesen. Zu dieser ernsten Auseinandersetzung zwingt uns „This ain’t California“ auf spielerische und humorvolle Weise.