Auch wenn der ungelenke Untertitel ein Bonus ist, den die deutsche Fassung von Tarsem Singhs Schneewittchen-Verfilmung für sich allein beanspruchen darf: Das Versprechen, nach der „wahren“ die „wirklich wahre“ Version einer Geschichte zu liefern, passt natürlich wunderbar in diese Zeit, die gespickt ist mit filmischen Remakes, Reboots und Prequels. Nicht das, was erzählt wird ist entscheidend, sondern nur noch, dass es neu ist – oder zumindest den Anschein von Neuheit erweckt. Und für diese Neuheit nimmt man ja auch gern in Kauf, dass jeder Anflug von Magie schon im Keim erstickt wird.
'Spieglein Spieglein' beginnt – wie man es von den Filmen Singhs erwartet – visuell berauschend mit einem wirklich atemberaubenden, animierten Prolog, der die Vorgeschichte des bekannten Märchens erzählt und an dessen Ende die schöne Königstochter Schneewittchen ohne ihren liebevollen, gutmütigen Vater und allein mit der boshaften, eifersüchtigen und eitlen Stiefmutter dasteht. Die Figuren erinnern optisch an aus glänzendem Marmor oder kostbarem Holz geschnitzte Puppen, die sie umgebenden Landschaften sind plastisch, aber gleichzeitig sehr stilisiert. So entsteht tatsächlich eine geheimnisvolle, jeder konkreten historischen Epoche enthobene Welt vor den Augen des Betrachters: Hier würde man gern verweilen – oder erfahren, was sich hinter den unbeweglichen Gesichtern der Figuren verbirgt. Der zickige Voice-over-Kommentar der bösen Stiefmutter (Julia Roberts), der erklärt, dass die bekannte Geschichte nun aus ihrer Sicht erzählt werde, lässt aber schon erahnen, dass es im Folgenden weniger düsterromantisch als vielmehr plump-modern zugehen wird. Und so ist es dann auch.
Zur Handlung: Nach dem Tod des beliebten Königs hat sich ewiger Winter über das Königreich gelegt, das von der herrschsüchtigen Königin rücksichtslos geknechtet wird. Trotzdem droht ihr der Konkurs: Ein wohlhabender Ehemann muss her. Der bald eintreffende Prinz Alcott (Armie Hammer) verliebt sich aber nicht in die Königin, sondern in deren bezaubernde Stieftochter Schneewittchen (Lily Collins), die daraufhin auf Geheiß der erbosten Königin vom treuen Diener Brighton (Nathan Lane) entsorgt werden soll. Weil der aber Mitleid mit ihr hat, lässt er sie in den tiefen Wäldern des Reichs frei – wo sie dann auf eine siebenköpfige Bande kleinwüchsiger Diebe stößt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wickelt das bildhübsche Mädchen diese natürlich um den Finger und plant mit ihnen den Putsch gegen die böse Königin. Am Ende ist diese um Jahre gealtert und ihre Herrschaft zerschlagen. Schneewitchen heiratet den braven Prinzen, die Zwerge werden rehabilitiert und selbst der totgeglaubte König kehrt zurück, um sein Amt wieder aufzunehmen. Hach.
Man merkt es schon an dieser Nacherzählung: Allzu groß sind die Unterschiede zwischen dieser „wirklich wahren“ und der allseits bekannten Version des Märchens nicht. Das Vorhaben, die Geschichte aus der Sicht der bösen Stiefmutter zu erzählen, wird schon bald aufgegeben; wohl auch, weil viele populäre Elemente des Märchens sonst gänzlich unter den Tisch fallen müssten. Und hat es zunächst noch den Anschein, als unternehme Singh den Versuch, die märchenhaften Vorgänge zu entmystifizieren, kommen im weiteren Verlauf des Films stattdessen immer neue fantastische Elemente zu den bereits bekannten hinzu. Entmystifizierend im negativen Wortsinne ist lediglich der unsäglich platte Humor, der sich zunehmend in den Vordergrund drängt und die zuvor etablierte Stimmung wieder zerstört. Dabei wäre es wirklich interessant gewesen, etwa die tiefenpsychologische Bedeutungsebene des Märchens freizulegen, so wie Neil Jordan es einst mit 'Die Zeit der Wölfe' für Grimms „Rotkäppchen“ erfolgreich durchexerziert hatte. Mit Singh stand ein Regisseur zur Verfügung, dem man diese Aufgabe durchaus zutrauen durfte, versteht er sich doch zweifellos darauf, Seelenlandschaften in eindrucksvolle Bilder zu übersetzen, wie man seit 'The Cell' oder auch The Fall' weiß. Aber der Regisseur agiert hier von Beginn an auf verlorenem Posten, steckt in einem konzeptionellen Korsett fest, das ihn zum Choreografen aufwendig kostümierter Schauspieler degradiert. So prachtvoll 'Spieglein Spieglein' auch aussieht: Seine Bilder lassen jede Tiefe vermissen, sind lediglich auf Hochglanz polierte Postkartenmotive. Da ist nichts, was wirklich überraschen oder gar verstören würde.
Das verwundert nun nicht, wenn man weiß, wer hinter 'Spieglein Spieglein' steht: Produzent Brett Ratner ist bislang als zuverlässiger Lieferant stets seelenloser Massenware aufgefallen ist und darf jeder Inspiration als unverdächtig angesehen werden. Statt das Potenzial seiner Prämisse zu heben, geht es ihm allein darum, Entertainment für die ganze Familie zu bieten. Ein ehrenwertes Unterfangen, wenn 'Spieglein Spieglein' dabei nicht immer den naheliegendsten, dümmsten und unkreativsten Weg ginge. So bleibt am Ende ein Film, der Kindern vielleicht noch ans Herz zu legen ist, insgesamt aber angesichts des ins Rennen geworfenen Talents doch als Enttäuschung bezeichnet werden muss. Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen ist wirklich nicht das Wahre.