Streng genommen ist die erzählte Zeit in Malgoska Szumowskas Film „Elles“ (Das bessere Leben), der eine starke Form mit einer offenen Reflexion verbindet, auf einen einzigen Tag verdichtet. In ihn schiebt sich die Vergangenheit mit ihren personalisierten Erinnerungen, Phantasien und Fiktionen in unterschiedlichen Graden. Doch die erinnerte Zeit ähnelt in Szumowskas präzise kalkuliertem Film keiner Rückblende. Vielmehr entfalten die parallelen Erzählstränge ein sehr flächiges Bild gleichzeitgier Handlungen. Aus dieser Struktur haben sich etwaige Erzählhierarchien zurückgezogen, das Zentrum befindet sich ebenso in den Teilen wie in deren Summe. Alles Erzählte ist zugleich Gegenwart und Vergangenheit eines sich selbst vergewissernden Bewusstseins, das mit sich selbst im Gespräch ist.
Diese Introspektion, die Gewissheiten in Frage stellt, widerfährt Anna (Juliette Binoche). Die gutsituierte Pariser Journalistin schreibt für das Magazin „Elle“ gerade an einem Beitrag über Studentinnen, die als Prosituierte arbeiten. Deren (soziale) Motive, die Praxis dieser „verborgenen“ Arbeit, aber auch die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte der jungen Frauen versucht Anna in langen Gesprächen mit Charlotte (Anaïs Demoustier) und Alicja (Joanna Kulig) zu erkunden. Dabei muss sie einige ihrer Hypothesen und Vorurteile revidieren. Denn die aus sozial schwachen Verhältnissen stammenden Studentinnen bedienen sich der Prostitution nicht nur, um gesellschaftlich aufzusteigen und am allgemeinen Wohlstand als Konsumenten zu partizipieren; sondern sie geben gegen alle Erwartung auch an, sich zu amüsieren und ihren Job eher erregend als erniedrigend zu finden -, auch wenn verschiedene Szenen dieses Klischee wiederum aus der anderen Richtung hinterfragen oder brechen.
Anna blickt während dieser Gespräche gewissermaßen in einen Spiegel und damit auf ihr eigenes Leben, dessen Abnutzungen und Selbstverständlichkeiten sich längst über ihre kaum noch identifizierbaren eigenen Bedürfnisse gelegt haben. Der Preis von Alltagsroutine und Wohlstand ist auch in „Elles“ zwischenmenschliche Entfremdung: Anna leidet unter Stress, Eheproblemen und den Schwierigkeiten mit zwei Kindern, die ihr immer mehr entgleiten. Aber Malgoska Szumowskas detaillierte filmische Analyse über die Zusammenhänge zwischen Leben und Arbeit, Liebe und Konsum geht noch tiefer, indem sie (nicht untröstlich, wie die Schlussszene suggeriert) durch den Schutzpanzer aus Lügen auf das einsame, brüchige Dasein blickt.