Das seltsamste Tier ist der Mensch. Die 23jährige Marina versteht ihresgleichen nicht und hält sich lieber an Tierdokumentationen des Briten David Attenborough. Zusammen mit ihrem todkranken Vater imitiert sie mit Leidenschaft das Balzverhalten von Wasservögeln und Gorillas. Wenn sie dagegen mit der in Liebesdingen erfahrenen Freundin bis zum Brechreiz Zungenküsse übt, fühlt sich das für Marina an 'wie eine Nacktschnecke' im Mund: 'Wie machen Menschen das nur?'
Aus dem krisengebeutelten Griechenland kommt nicht nur einer der 'schrecklichsten Küsse der Kinogeschichte' (New York Times), sondern auch ein besonders selbstbewusstes Argument für die steile These von Regierocker Klaus Lemke, dass Filmförderung fürn Arsch sei. Filme lieber ungewöhnlich, könnte das Motto von Athina Rachel Tsangari lauten, die ihre eigene Produktionsfirma gegründet hat, um ihre und die Projekte anderer eigenwilliger Filmemacher verwirklichen zu können.
Für die bizarre Mischung aus einer 'Doku über eine andere Familie im Stil eines Tierfilms' und einem 'abstrakten Musical, das in unseren Köpfen stattfindet' (Tsangari über 'Attenberg'), hätte sich wohl auch kaum ein staatliches Fördergremium erwärmt, wenn derzeit in Griechenland in nennenswertem Maße Kultursubventionen zu vergeben wären. Einerseits seziert die Regisseurin in kühlen Versuchsanordnungen menschliche Verhaltensweisen vor den klinischen Kulissen eines zerfallenden Fabrikstädtchens. Andererseits sind unvermittelt absurde Tanzeinlagen der beiden Freundinnen im Stil der silly walks von Monty Python eingestreut, die die Handlung wie ein griechischer Chor unterbrechen und kommentieren, aber vor allem signalisieren, wie die Protagonistinnen, die Suicide hören und trostlosen Jobs nachgehen, auf ihre Art der aussichtslosen Lage trotzen.
Diese angenehm unsentimentale Coming-of-age-Story mündet nicht darin, dass die junge Frau in der Krise endlich erwachsen wird und sich ins System fügt. Die Anthropologin wider Willen, die man nie lächeln oder gar flirten sieht, klopft gesellschaftliche Konventionen auf ihren Gehalt ab: Was kann sie davon übernehmen, und was kann ihr gestohlen bleiben? Ebenso wie Marina sich schließlich vorsichtig aufs Leben mit ihresgleichen einlässt, wird der Zuschauer mehr und mehr zum anteilnehmenden Beobachter dieser außergewöhnlichen Variante menschlicher Spezies.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2012