Zum Ende hin macht sich eine große Leere breit: Protagonisten verschwinden, ohne dass sie eine Spur hinterließen. Anonyme und teilweise gar gesichtslose Kräfte mischen sich ohne Vorankündigung in die Handlung ein, sabotieren dessen Erzählung durch ihre überfallartigen Eingriffe. Oft bleibt nicht mehr als eine aus dem Kontext gerissene Dialogzeile, die den Zuschauer über den Verbleib bis dahin noch wichtiger handelnder Figuren aufklärt. Was als lückenlose Chronik einer Entführung begann, endet als elliptische Reflexion über soziale Isolation und die Mechanismen der Macht und – damit verbunden – der Ökonomie, die so unausweichlich wie die Naturgesetze sind. Die Schärfe von Eriprando Viscontis Sozialkritik zeigt sich vor allem darin, dass er die Gesellschaft aus seinem Film subtrahiert.
Zu Beginn ist noch alles klar: Drei namenlose Ganoven entführen die junge Alice (Rena Niehaus), Tochter eines wohlhabenden Unternehmers und verschleppen sie in ein außerhalb von Mailand gelegenes, leerstehendes Bauernhaus. Dort wartet bereits der Vierte im Bunde, der unerfahrene Michele (Michele Placido). Während Michele gemeinsam mit einem Komplizen (Flavio Bucci) dafür zuständig ist, das Mädchen zu bewachen, kümmern sich die beiden anderen um die Abwicklung der Lösegeldforderung. Doch Alice‘ Vater ist anscheinend nicht bereit, zu zahlen. Die Isolation treibt den Naivling Michele – der meist allein gelassen wird – in die Langeweile und so schließlich in eine zunächst sexuelle, dann auch eine Liebesbeziehung mit seiner Geisel, die ihn davon überzeugen möchte, mit ihr zu fliehen und ihm eine gemeinsame Zukunft verspricht. Doch als die Polizei plötzlich anklopft, erweisen sich ihre Liebesbekundungen als eiskalte Strategie …
„La Orca – Gefangen, geschändet, erniedrigt“ erweist sich ganz entgegen seines reißerischen deutschen Verleihtitels, der einen sexistischen Exploiter verspricht, als vielschichtiger und raffinierter Genrehybrid aus Erotikthriller, Kriminalfilm und Drama, dessen expliziten Sexszenen weitaus weniger als Beleg eines abgefeimten geschäftlichen Kalküls als vielmehr krasse bildliche Konkretisierung seiner gesellschaftlichen Diagnose erscheinen. Die Geschichte einer Entführung mündet zunächst in das sattsam bekannte Szenario der sexuellen Erniedrigung/Verführung der Gefangenen/des Entführers, das sich schließlich in eine sadomasochistisch angehauchte Liebesgeschichte verwandelt, die das bis dahin vorherrschende Kräfteverhältnis auf den Kopf stellt, allerdings ohne, dass dies dem eigentlich die Position der Dominanz innehabenden Michele bewusst würde: Die verführerische Alice lässt ihn weniger passiv gewähren, als dass sie ihn aktiv herausfordert, sich ihr zu nähern, so sein Vertrauen gewinnt und die Grundlage für ihre Befreiung und seinen Untergang legt. Dass es sich bei ihm um ein unbedarftes und mittelloses Landei handelt und bei ihr um die gebildete Tochter aus gutem Hause, ist dabei kein Zufall.
Es sind vor allem die sich kontinuierlich auflösenden Nebenstränge dieser Geschichte, die nach und nach verdeutlichen, dass sich „La Orca“ nahtlos in das polemische klassenkämpferische italienische Kino jener Tage eingliedert, in dem die armen Schlucker am Ende immer den Kürzeren gegenüber den gewissen- und skrupellosen Reichen ziehen. Michele und seine Komplizen sind keine bösen Menschen, vielmehr werden sie von wirtschaftlichen Umständen in die Kriminalität gezwungen: So schmuggelt Micheles Kumpan Zigaretten, weil das Geld, das er mit dem Reparieren von Flipperautomaten verdient, nicht ausreicht, um sich, seine Geliebte und deren Kind über Wasser zu halten. Aber auch der Zigarettenschmuggel bringt kaum mehr als ein kleines Zubrot, das das Risiko, geschnappt zu werden, eigentlich nicht lohnt. Das System kann den Ausbruch dennoch nicht dulden und so werden die Kriminellen heimlich, still und leise, aber ungemein effektiv aus dem Verkehr gezogen: Der Kopf der Bande (Bruno Corazzari) wird von seinen Auftraggebern abberufen, weil die Polizei auf ihn aufmerksam geworden ist – er verschwindet ohne Abschied aus dem Film –, Micheles Partner wird plötzlich von mehreren Männern gestellt, ohne dass man erführe, wie sie ihm eigentlich auf die Schliche gekommen sind. „La Orca“ zieht sich im Verlauf seiner Spielzeit immer mehr zusammen, blendet die Außenwelt immer mehr aus, bis nur noch Michele da ist. Aber auch er wird nicht bleiben.
Seine Isolation in dem verrammelten Bauernhaus lässt sich durchaus als Bild lesen: Seine Welt ist klein, dunkel, schäbig, geprägt von den Bedürfnissen, die unmittelbare Stillung verlangen, und den Träumen, die ihn dazu antreiben, über die engen Grenzen hinauszugehen. Was er nicht sieht, ist der Kontext, in den er eingebunden ist. Draußen geht das Leben weiter und es spielt gegen ihn. Während er am Schluss in seinen ausgelatschten Sandalen verblutet, einen Tod stirbt, dessen genaue Umstände niemals ans Licht kommen werden, um seine Mörderin nicht zu belasten, die eiskalte Alice in ihr behütetes Haus zurückkehren kann, spielt der Drahtzieher hinter der Entführung, ein blinder alter Mann, Klavier in einem Ballsaal, den nie ein Gast zu betreten scheint, der dafür aber von einer ganzen Armee von Putzfrauen sauber gehalten wird. Wer solche Auftraggeber hat, dessen Leben ist tatsächlich keinen müden Pfifferling mehr wert. Und vielleicht war es das nie.