Michael Fassbender spielt fantastisch. Wie er in der U-Bahn sitzt, eine junge Frau anblickt – nicht starrt, nur blickt –, wie er irgendwas Subtiles mit seinen Lippen macht, sie leicht öffnet, leicht schließt, wie er damit die Frau in seinen Bann schlägt, bis sie zurückblickt zwischen Verlegenheit und Flirt: Fassbender ist ganz der Profi im Frauenaufreißen, das muss er sein, sie sind sein Lebenselixier – er ist sexsüchtig.
Sexsucht. Davon handelt Steve McQueens Film, und von wenig anderem. Fassbender als Brandon fickt, wichst, fickt und wichst, in One-Night-Stands, vor dem Laptop, mit Nutten, auf dem Klo. Emotionen: gleich Null. Abschussquote: Einhundert Prozent. Steve McQueen will das Phänomen erforschen. Dazu stellt er Brandon seiner Schwester Sissy gegenüber, die eines Tages bei ihm einzieht, und die hochemotional ist. Was beziehungstechnisch ein ähnliches Manko ist wie Brandons Gefühllosigkeit, seine Oberflächlichkeit, seine Körperbezogenheit. Ein unausgesprochener Konflikt liegt zwischen ihnen, es gibt Andeutungen über die Herkunft ihrer emotionalen Schäden in der Familiengeschichte: Wir sind nicht schlecht, wir kommen nur von einem schlechten Ort … Der Konflikt bricht aus, als Sissy singt, „New York New York“ in einer langsamen, traurigen Weise, als Brandons Boss David eine Träne auf dessen Wange bemerkt und dann Sissy abschleppt und bumst. Der Boss, der seine Schwester verführt: Brandon steht vor dem, was er selbst ist – naja: vor einer unscharfen Kopie.
Großartige Darsteller – auch Carey Mulligan als Sissy – und einige treffende Szenen, die pointiert die Erbärmlichkeit von Brandons einsamem triebhaftem Leben offen legen, schützen nicht davor, dass der Film quasi in Ehrfurcht vor seinem Thema erstarrt. Lange geschieht nichts, außer dass wir Brandon bei seinem Treiben, bei seinen Trieben beobachten. Wir sehen, wie er sich durch Frauen und Pornofantasien vögelt, wie er sich selbst anwidert, wie er mit einer Kollegin eine Beziehung wagen will, ein Rendezvous im Restaurant – und wie er dann, weil Emotionen im Spiel sind, im Bett versagt: ein Todesurteil. Wir sehen, wie er sich vor sich selbst schämt. Eine Handlung sehen wir nicht. Bis am Ende alles auf Brandon, auf den Zuschauer einstürzt. Bruch mit der Schwester, verzweifelte Versuche, zum Schuss zu kommen, selbstzerstörerische Provokation von Prügeln, zur Not ab in den Schwulentreff, man muss ja nicht hinsehen, wer da bläst. Und dann ein ultimatives Schockerlebnis, die völlige Erkenntnis des eigenen Versagens, das Ausbrechen von Emotionen – ja: er weint im Regen.
„Shame“ ist schonungslos, mit sich, mit dem Zuschauer, doch es fehlen Entwicklung in Charakteren und Konflikt. In der andauernden Selbstverachtung Brandons liegt der stete implizite Ausdruck einer Film-Moral: Alles ist darauf angelegt, den Zuschauer zu verstören, ihm ein (negatives) Urteil zu suggerieren. Als könnte er bei der ständigen mechanisch vollführten Triebabfuhr einer einsamen Existenz nicht selbst entscheiden, wie erstrebenswert ein solches Leben ist. Nur selten öffnet der Film den moralischen Raum, und das liegt an Fassbenders Spiel: wie er einmal die Annäherungsversuche seines Chefs in einer Bar verfolgt, wie sein breiter, schmallippiger Mund den linken Mundwinkel leicht nach oben geworfen hat zu einem ironischen Touch, wie in seinen leicht amüsierten, leicht abschätzigen Augen zu lesen ist: So ein Dilettant. Plapper nicht so! Hampel beim Tanzen nicht so rum! Es ist der Blick des Profis auf den Amateur.