Martin Scorsese hat einen Kinderfilm gedreht, der sich dem ganz Alten widmet, einen Film in neuester Technik in 3D und mit Digitaltouch, der das Zauberbudenkino der 1900er und 1910er Jahre feiert. Scorsese hat eine Hommage an die Magie des Kinos geschaffen, indem er den ersten Magier des Kinos vorstellt und sich aus dem Arsenal des heutigen Inszenierungs-Illusionszauberkastens bedient.
In der Eingangssequenz fliegt die Kamera über das nächtliche, winterliche Paris der 20er Jahre in einen Bahnhof ein, über die Gleise, durch die belebte Halle, hinauf zur Uhr und in eine Großaufnahme des Gesichts von Hugo Cabret, der Hauptfigur. Industrial Light and Magic hat für diesen atemberaubenden Anfang einen eigenen Abspanncredit bekommen, mit diesem rasanten Flug holt der Film Schwung, einen Schwung, der ihm bis zum Ende nicht ausgehen wird.
Hugo, 10 Jahre, ist das Phantom des Bahnhofs, der nicht in unterirdischen Katakomben, sondern in den Gängen hinter den Wänden haust. Er ist der, der die vielen Bahnhofsuhren aufzieht, stellt, wartet. Er hat einen künstlichen Menschen, einen mechanischen Automaten in seiner Kammer stehen, und er beobachtet die Menschen in der Bahnhofshalle, all die Pendler und Reisenden, auch alle, die immer da sind, die Wirtin des Cafés, den Maler, die Blumenverkäuferin und den alten Mann mit den mechanischen Spielzeugen. Der Bahnhof: das ist das Konzentrat der typischen französischen Stadt, wie sie im Kino immer wieder aufersteht: vor dem Café spielen Musiker (ist einer davon Django Reinhardt?), zu denen die Gäste tanzen, zwischen der Wirtin und dem Maler bahnt sich eine Liebesgeschichte an, die nur vom kläffendem Kleinköter verhindert wird, und die Patentochter des Spielwarenhändlers sieht man mit Baskenmütze und Baguette. Nie macht der Film einen Hehl aus seiner Künstlichkeit und Konstruiertheit – es geht ihm ja auch nie um Realität, sondern um den Traum, der das Kino sein kann. Dante Ferretti, der Altmeister der Ausstatter, hat diese Welt designt, und sie ist die Hauptattraktion im ganzen ersten Teil des Films. Ein reiches, lebendiges Panoptikum voller kleiner, lustiger, liebevoller Details.
Die Handlung zu diesem Zeitpunkt: Hugo muss vor dem Bahnhofsvorsteher fliehen – der in einer Mischung aus Keystone Cop und Inspektor Clouseau von Sacha Baron Cohen gespielt wird –, und er will sein Notizbuch zurück, das ihm der Spielwarenhändler (Ben Kingsley als mürrischer alter Mann mit sicherlich goldenem Herzen) weggenommen hat. Dabei lernt Hugo Isabelle kennen, dessen Patenkind, ein Bücherwurm, die auf Abenteuer aus ist – womit das Stichwort ausgesprochen ist, das Abenteuer, der Wunschtraum, in den man versinken kann im Kino. Isabelle liebt Dickens „David Copperfield“, Hugo bekommt vom Buchhändler (Christopher Lee in einer Veteranenrolle) den „Robin Hood“ geschenkt; und sie liefern sich weitere Verfolgungsjagden mit dem Bahnhofsvorsteher, der alle Kinder ins Waisenhaus stecken will, jagen weiter dem Notizbuch nach und versuchen, das Automaton wieder in Gang zu setzen – ein turbulentes Sammelsurium an Haupt- und Nebenhandlungen, von denen auch gerne mal ein paar untern Tisch fallen können. So ist das Notizbuch irgendwann gar nicht mehr wichtig, der mechanische Schreibautomat auch nicht, nachdem er seine Funktion erfüllt hat, und Hugos Erinnerung an den verstorbenen Vater quält ihn auch nicht mehr, denn plötzlich verfolgt der Film eine ganz neue Spur: die von George Méliès.
Méliès, der Traumfabrikant des frühen Kinos, dem die beiden nachspüren, der längst vergessen ist zur Zeit der Handlung, der selbst nicht mehr von sich, von seiner Vergangenheit als Filmemacher wissen will. Vom Kinderabenteuer kommt Scorsese zu einer spielerischen Erforschung der Filmgeschichte, er skizziert kursorisch das Werden und das Wirken von Film, feiert das frühe Kino und damit die Kraft, die in der Filmkunst steckt. Wo die Bahnhofs-Abenteuergeschichte manchmal allzu flott von Action zu Action sprang und mitunter die Emotion vernachlässigte, da ist der Film hier ganz im Einklang mit sich selbst, jetzt, da er sich dezidiert mit dem eigenen Medium befasst.
Präzise und gleichzeitig wie aus einem Traum stellt Scorsese Méliès’ Dreharbeiten nach, im Glasatelier mit Schiebekulissen, Feuerwerk, Bühnenzauber und Kameratricks. Dass diese in 3D geschieht, hat eine eigentümliche innere Notwendigkeit; das frühe Kino und die heutige Technikrevolution werden kurzgeschlossen: denn die Mittel sind austauschbar. Es geht beim Film stets darum, was er auslöst. Wenn ein Zug in den Bahnhof einfährt, dann löst das eine Reaktion aus, ob sich bei einer Vorführung der Lumiere-Brüder in den 1890ern das Publikum vor Schreck wegduckt oder ob nun bei Scorsese der Zug den Prellbock durchstößt, durch den ganzen Bahnhof rast, bis er auf der anderen Seite auf die Straße stürzt.