„Herz und Mund und Tat und Leben“: Ganz Programm ist der Kantatentitel und Untertitel des Dokumentarfilms über das Leben und Arbeiten im Leipziger Thomanerchor. Und ganz Bach ist er. Johann Sebastian Bach besitzt wohl kaum an einem anderen Ort der Welt heute noch eine größere Präsenz als an seiner Wirkungsstätte als Kantor der Thomaskirche von Leipzig von 1723 bis 1750.
Und doch feiert der Thomanerchor in diesem Jahr seinen 800. Geburtstag, und die angegliederte „Thomas“-Schule gilt als älteste Schule Deutschlands. 800 Jahre ungebrochene Tradition ist das Thema und zum Gutteil auch Methode dieser Dokumentation der auf Musikfilme und Musikerportraits spezialisierten Autoren und Regisseure Günter Atteln und Paul-Ludwig Smaczny. Methode, weil kaum etwas an den „Thomanern“ die Pfade herkömmlicher Dokumentationen zu verlassen wagt. Alles, von der Chronologie der Ereignisse während eines Jahres im Thomaner-„Alumnat“ angefangen, bis zur augen- und hirnschonenden Bildkadrierung, ist ästhetischen und ordnenden Kriterien unterstellt, die, positiv ausgedrückt, vertraut wirken. Aus Bewährtem muss nun nicht zwangsläufig Langweiliges erwachsen, und „Die Thomaner“ ist tatsächlich ein runder Film geworden, der beides weniger hinterfragt als bestätigt: Die Tradition der guten alten Thomaner und die Tradition des guten alten Dokumentarfilms.
Ein Film, beginnend mit Abschied und Ankunft. Das tränenreiche Ausscheiden der jungen Abiturienten nach acht oder neun Jahren und die aufregende Aufnahmeprüfung der 10-jährigen Jungen stehen am Anfang und am Schluss dieser ein Jahr dauernden Observation. U.a. steht die Frage im Raum: „Wie cool kann ein Thomaner sein?“ und dass die Leipziger Externen sie als „Thomaner-Schwulies“ bezeichnen, scheint schwer vermeidlich, obgleich, wer sie besser kennt, wie die Freundin eines Thomaners, weiß, dass sie hetero und nett sind und lustig und es nie langweilig mit ihnen wird. Sie tragen zwar fast durchweg uncoole Frisuren und das Muster an den Krägen ihrer Trikots sieht so aus wie verunglückte Adidas-Streifen, dennoch muss ihrer Gemeinschaft etwas Besonderes zu eigen sein, was die Schüler und Chorknaben dazu bringt, z.B. sogar den Weihnachtsabend lieber im Internat als bei ihren Eltern zuhause zu verbringen. Überhaupt können sich die Thomaner nicht entscheiden, was für sie eher ihr Zuhause ist, der „Kasten“, wie das Alumnat genannt wird, oder das Elternhaus.
Ein bisschen rätselhaft bleiben uns die Thomaner, denn so ganz schafft der Film es nicht, die wichtige Frage zu beantworten, was denn am Thomanerdasein so aufregend ist, sodass einige derer, die das Internat verlassen, meinen, eine so schöne Zeit im Leben nie mehr erleben zu werden. Aber der Film zeigt einen straff durchorganisierten und mit Arbeit durchsetzten Stundenplan und „Thomasser“, wie sie intern genannt werden, die sich fragen, wie denn die Externen die ganze Zeit nach Schulschluss ab 15:30 Uhr verbringen mögen, wenn diese doch nicht vollgestopft ist mit Chorproben (jede Woche muss eine neue Kantate erlernt sein), Klavierstunden, Hausaufgaben und dem Fach Stimmbildung. Natürlich kreist der Internatsbetrieb um die Musik, den Chor, der Bach-Kantaten, -Motetten und -Passionen übt oder aufführt. Wir sehen Kinder als Kinder, so etwa beim Fußballspielen gegen den Kreuz-Chor, Dresden, und Kinder als Künstler: Der Film begleitet eine Gruppe Auserwählter auf ihre Auslandstournee, São Paulo, Montevideo, Buenos Aires mit der ausnahmsweisen Lizenz zur „Divenhaftigkeit“. So nennt es der Kantor Georg Christoph Biller, der mit seinen langen geföhnten Haaren ein wenig aussieht wie eine Kreuzung aus Rudolph Mooshammer und Johann Sebastian Bach. Eine Lizenz, weil sie sie sich als Teil von etwas Besonderem fühlen dürfen, ein Gefühl, das mitunter „ein Leben lang vorhält“, ein „geiler Moment“ sagt einer von den Älteren, sei es, wenn sich der Chor erhebt und das Publikum frenetisch applaudiert. „Geil“, eben, die Thomaner sind trotzdem ganz normale Jungs, auch wenn sie Goldkehlen besitzen.
Da wo die Bachfrage dominiert, da liegt die Glaubensfrage nicht weit. Der Thomanerchor steht zwar unter der Trägerschaft der Stadt Leipzig, seine Hauptaufgabe allerdings ist eine kirchliche, nämlich das gesangliche Begleiten der Gottesdienste. Gern gesehen ist, wenn die Thomanerjungen christlich orientiert sind, aber etwa ein Drittel kommt zunächst konfessionslos oder fremdkonfessionell, jedenfalls nicht protestantisch in die „Familie“. Sichtlich bewegt berichtet jedoch Thomaskantor Biller, wie die Musik von Bach und das Leben im Alumnat immer wieder bekehrende Wirkungen erzielen.
Nur ein junger Mann erzählt, dass das mit dem Glauben bei ihm nicht so recht funktioniere, auch hadert er ein wenig mit seiner Internatsvergangenheit, weil er so nicht mehr die Entwicklung seiner eigenen Familie verfolgen konnte und bei manchen tritt zum Ende ihrer Internatszeit und zum Anfang ihres Erwachsenenlebens so etwas wie Ratlosigkeit auf: vielleicht kein Wunder, wenn das Leben vorher so schön geordnet und gefüllt war. Aber, als wolle er uns beruhigen, zeigt der Film vor dem Abspann noch auf Texttafeln, was aus drei Jungs geworden ist, alle streben sie ordentliche Berufe an, und überhaupt haben die Thomaner traditionell immer die besten Abiture gemacht.
Da sind Thomaner-Pannen wie die „Prinzen“ wohl doch und hoffentlich eher die Ausnahme und nicht Konsequenz. Jedenfalls interessant, dass diese Ex-Thomaner sich offenbar nicht aus ihrer Gemeinschaft lösen wollten und sozusagen als kleine „Thomanergruppe“ zusammenblieben – um dann eine einigermaßen geschmacklose Popmusik zu machen. Tja, sehr cool sind sie wahrscheinlich wirklich nicht, die Thomasser, und Stilbildung scheint nicht wirklich zum Hauptpensum ihrer langen Tage zu gehören, aber sowas wie Style ist sowieso Teufelszeug, nicht wahr, Herr Bach?