In den bedeutendsten Filmen des modernen türkischen Kinos bricht sich ein Lebensgefühl Bahn, das zwischen melancholischem Existentialismus, Entfremdung und Perspektivlosigkeit changiert. So wirken die Arbeiten von Autorenfilmern wie Nuri Bilge Cylan und Zeki Demirkubuz mitunter geradezu als zeitgenössische Fortsetzungen der Filme Antonionis. Doch hinter selbstbezogener Einsamkeit und der Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen, steht hier nicht allein ein allgemeiner Sinnverlust im Zeichen der Moderne, sondern vor allem ein kultureller Bruch nach dem Wegfall traditioneller Gewissheiten. Zwar bleibt die aktuelle Politik des Landes weitgehend unsichtbar, doch der durch sie verursachte gesellschaftliche Wandel hat sich in den Biographien der dargestellten Figuren festgesetzt und ihre Identitäten mit Ungewissheiten infiziert. Unterdrückte Sehnsüchte und innere Unruhe bei gleichzeitig äußerem Stillstand, scheint ein Wesensmerkmal von ihnen zu sein. Anderseits sind sie oft in Indifferenz und Unentschiedenheit gefangen, was sich zum Beispiel in Cylans Filmen „Uzak“ (Weit weg) und Iklimler (Jahreszeiten) besichtigen lässt.
Auch der schweigsame Dichter Yusuf (Nejat Isler) aus Semih Kaplanoglus Film „Yumurta – Ei“, dem ersten Teil der „Yusuf-Trilogie“, gehört in diese Reihe melancholischer, scheinbar verlorener Gestalten. Zu Beginn des tief beeindruckenden Films sieht man ihn in seinem Istanbuler Buchladen: Umgeben von vollgestopften Regalen, sitzt er in sich gekauert, rauchend und leise Musik hörend, während er dem aufreizenden Auftreten einer späten Kundin kaum Beachtung schenkt. Seine Distanz zur oberflächlichen Beliebigkeit des städtischen Lebensgefühls ist genauso ausgeprägt wie diejenige zu seiner ländlichen Herkunft. Yusuf lebt in einem ungewissen Zwischenreich: Er hat seine traditionelle Erdung gegen eine trügerische Hoffnung eingetauscht, weil ihm seine künstlerische Berufung im klassischen Konflikt mit dem Leben keine Wahl zu lassen scheint; er sucht, ohne sich darüber bewusst zu sein, nach einer Identität, die er zugleich flieht.
Als Yusuf zur Beerdigung seiner Mutter Zahra nach Tire unweit der ägäischen Küste gerufen wird, konfrontiert ihn das nicht nur mit dem ungeliebten Ort seiner Kindheit und Jugend, sondern in der jungen, schönen Ayla (Saadet Aksoy) auch mit seinem uneingestandenen, unterdrückten Liebesbegehren. Während er noch mit der formalen Abwicklung des Trauerfalls beschäftigt ist und dabei kaum innere Regung zeigt, trifft er auf frühere Bekannte und seine einstige Jugendfreundin Gül (Gülcin Santyrcyoelu). Doch Yusuf ist ein Fremder in der Heimat; seine Erinnerungen sind wie ein ferner Schatten verlorener Möglichkeiten. Müde und melancholisch, scheinbar ohne Interesse und immer den anvisierten baldigen Aufbruch im Blick durchquert Yusuf die Szenerien vertrauter Orte, an denen alte Bräuche, überlieferte Werte und das Wissen um handwerkliche Techniken lebendig sind. Gerade seine Begegnung mit Ayla, die trotz selbstbewusster Emanzipiertheit ein ungebrochenes Verhältnis zu den heimatlichen Traditionen besitzt und die ihm in gewisser Weise die Mutter ersetzt, zwingt ihn in die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft. Widerstrebend einem Gelübde seiner verstorbenen Mutter folgend, soll Yusuf einen Widder opfern.
Semih Kaplanoglu, der seinen Film in langen Einstellungen komponiert hat und seine mitunter betörend schönen Bilder mit einer unaufdringlichen Symbolik metaphysisch auflädt, schickt Ayla und Yusuf, als wären sie verheiratet, auf eine Fahrt über den Berg Bozdag bis zum Gölcük-See. Dabei wird die göttliche Natur zum Spiegel der Erinnerung und zum Seelenraum. Im Schweigen verdichtet sich für Yusuf schließlich ein Gefühl der Heimkunft und eines verdrängten Liebesverlangens. In einer atmosphärisch höchst eindringlichen, völlig ungewöhnlichen Szene mit einem großen Hirtenhund, der in einer Mischung aus Bedrohung und schützender Geborgenheit Yusuf eine Nacht lang auf freiem Feld festhält beziehungsweise bewacht, verdichtet Kaplanoglu in einem außerordentlichen, irritierenden Bild das Motiv des aufgeschobenen Aufbruchs. Für einen langen kathartischen Augenblick wird aus dem verlorenen Schaf, das seinen Weg nicht mehr kennt, ein weinendes Kind. In „Yumurta“ mündet die verhinderte Flucht in eine Rückkehr.